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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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reich an menschlicher Verworfenheit gewesen ist wie die
deutschen Fürsten vom fünfzehnten bis zum achtzehnten
Jahrhundert" 82). Das ist der Ausgangspunkt.

Den zum Jenseits gewandten phantastischen österrei-
chischen Kaisern zur Zeit der Reformation gelang es nicht,
diesen Adel zu bändigen. In Frankreich führte die Unter-
werfung der Provinzialfürsten zu jenem Hofadel, der die
Blüte der französischen Literatur schuf. In England passte
sich der die Revolution überlebende Adel den Interessen
des Volkes an. Ja, im russischen Dekabristenaufstand ver-
schwor sich der Adel sogar im Sinne der Volksemanzipa-
tion und gegen seine eigenen Privilegien wider den Zaren.
In Deutschland aber? "Deutschland wimmelt von Fürsten",
schrieb in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Kenner
der deutschen Höfe, Graf Manteuffel, "von denen drei
Viertel kaum gesunden Menschenverstand haben und die
Schmach und Geissel der Menschheit sind. So klein ihre
Länder, so bilden sie sich doch ein, die Menschheit sei für
sie gemacht, um ihren Albernheiten als Gegenstand zu
dienen. Ihre oft sehr zweideutige Geburt als Zentrum allen
Verdienstes betrachtend, halten sie die Mühe, ihren Geist
und ihr Herz zu bilden, für überflüssig oder unter ihrer
Würde. Wenn man sie handeln sieht, sollte man glauben,
sie wären nur da, um ihre Mitmenschen zu vertieren, in-
dem sie durch die Verkehrtheiten ihrer Handlungen alle
Grundsätze zerstören, ohne die der Mensch nicht wert ist,
ein Vernunftswesen zu heissen" 83). Die Intelligenz aber --
sympathisierte oder fluchte sie? Von Luther bis Rathenau
trugen die hervorragendsten Geister zur Stärkung dieses
Adels bei, indem sie sich begnügten mit der "intelligiblen
Freiheit", die, ob sie Musik, Transzendenz, innere Civitas
Dei oder "Freiheit eines Christenmenschen" hiess, auf ein
freiwilliges oder notgedrungenes Abdanken hinauslief und
sogar auf eine verstockte, servile, zwinkernde Konspiration
wider die Weltmoral.

reich an menschlicher Verworfenheit gewesen ist wie die
deutschen Fürsten vom fünfzehnten bis zum achtzehnten
Jahrhundert“ 82). Das ist der Ausgangspunkt.

Den zum Jenseits gewandten phantastischen österrei-
chischen Kaisern zur Zeit der Reformation gelang es nicht,
diesen Adel zu bändigen. In Frankreich führte die Unter-
werfung der Provinzialfürsten zu jenem Hofadel, der die
Blüte der französischen Literatur schuf. In England passte
sich der die Revolution überlebende Adel den Interessen
des Volkes an. Ja, im russischen Dekabristenaufstand ver-
schwor sich der Adel sogar im Sinne der Volksemanzipa-
tion und gegen seine eigenen Privilegien wider den Zaren.
In Deutschland aber? „Deutschland wimmelt von Fürsten“,
schrieb in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Kenner
der deutschen Höfe, Graf Manteuffel, „von denen drei
Viertel kaum gesunden Menschenverstand haben und die
Schmach und Geissel der Menschheit sind. So klein ihre
Länder, so bilden sie sich doch ein, die Menschheit sei für
sie gemacht, um ihren Albernheiten als Gegenstand zu
dienen. Ihre oft sehr zweideutige Geburt als Zentrum allen
Verdienstes betrachtend, halten sie die Mühe, ihren Geist
und ihr Herz zu bilden, für überflüssig oder unter ihrer
Würde. Wenn man sie handeln sieht, sollte man glauben,
sie wären nur da, um ihre Mitmenschen zu vertieren, in-
dem sie durch die Verkehrtheiten ihrer Handlungen alle
Grundsätze zerstören, ohne die der Mensch nicht wert ist,
ein Vernunftswesen zu heissen“ 83). Die Intelligenz aber —
sympathisierte oder fluchte sie? Von Luther bis Rathenau
trugen die hervorragendsten Geister zur Stärkung dieses
Adels bei, indem sie sich begnügten mit der „intelligiblen
Freiheit“, die, ob sie Musik, Transzendenz, innere Civitas
Dei oder „Freiheit eines Christenmenschen“ hiess, auf ein
freiwilliges oder notgedrungenes Abdanken hinauslief und
sogar auf eine verstockte, servile, zwinkernde Konspiration
wider die Weltmoral.

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[206/0214] reich an menschlicher Verworfenheit gewesen ist wie die deutschen Fürsten vom fünfzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert“ ⁸²⁾ . Das ist der Ausgangspunkt. Den zum Jenseits gewandten phantastischen österrei- chischen Kaisern zur Zeit der Reformation gelang es nicht, diesen Adel zu bändigen. In Frankreich führte die Unter- werfung der Provinzialfürsten zu jenem Hofadel, der die Blüte der französischen Literatur schuf. In England passte sich der die Revolution überlebende Adel den Interessen des Volkes an. Ja, im russischen Dekabristenaufstand ver- schwor sich der Adel sogar im Sinne der Volksemanzipa- tion und gegen seine eigenen Privilegien wider den Zaren. In Deutschland aber? „Deutschland wimmelt von Fürsten“, schrieb in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Kenner der deutschen Höfe, Graf Manteuffel, „von denen drei Viertel kaum gesunden Menschenverstand haben und die Schmach und Geissel der Menschheit sind. So klein ihre Länder, so bilden sie sich doch ein, die Menschheit sei für sie gemacht, um ihren Albernheiten als Gegenstand zu dienen. Ihre oft sehr zweideutige Geburt als Zentrum allen Verdienstes betrachtend, halten sie die Mühe, ihren Geist und ihr Herz zu bilden, für überflüssig oder unter ihrer Würde. Wenn man sie handeln sieht, sollte man glauben, sie wären nur da, um ihre Mitmenschen zu vertieren, in- dem sie durch die Verkehrtheiten ihrer Handlungen alle Grundsätze zerstören, ohne die der Mensch nicht wert ist, ein Vernunftswesen zu heissen“ ⁸³⁾ . Die Intelligenz aber — sympathisierte oder fluchte sie? Von Luther bis Rathenau trugen die hervorragendsten Geister zur Stärkung dieses Adels bei, indem sie sich begnügten mit der „intelligiblen Freiheit“, die, ob sie Musik, Transzendenz, innere Civitas Dei oder „Freiheit eines Christenmenschen“ hiess, auf ein freiwilliges oder notgedrungenes Abdanken hinauslief und sogar auf eine verstockte, servile, zwinkernde Konspiration wider die Weltmoral.

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/214>, abgerufen am 29.04.2024.