Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite


überrumpelt. Alle Kronen schmiedete er gewaltsam zum
Ring, und daran band er ein grosses Volk in entsetzlicher,
heute dem Volke noch kaum zu Bewusstsein gekommener
Sklaverei. Wenn aber sein System nun zusammenbrach?
Das Erfolgsystem, das Gewaltsystem, das Betrugsystem, die
moralische Freibeuterei? Was blieb dann vom Deutschtum
übrig? Was mehr als ein Jammer?

"Roter Reaktionär, riecht nach Blut, später zu gebrau-
chen", soll Friedrich Wilhelm IV. gesagt haben, als er
Bismarck fürs Erste von der Ministerliste strich 94). Der
verschuldete, arme und hungrige Landjunker Bismarck war
ein Kind seiner romantischen Zeit. Als Romantiker las er
Byron und Shakespeare, als Junker den Macchiavell. Es
war die Zeit, da erbötige Hegelianer die Offenbarungen
der Weltseele übersetzten in den Jargon der preussischen
Bürokratie, und einer von ihnen schrieb eine Rechts- und
Staatsgeschichte, worin der preussische Staat auftrat als
Riesenharfe, ausgespannt im Garten Gottes, um den Welt-
choral zu leiten. Gegen diese Bürokratie, deren Pünktlich-
keit, Ordnung und Stabilität das Königtum stützte, kämpften
die Junker. Für sie brauchte die Vernunft der preussischen
Monarchie nicht erst aus der Weltseele abgeleitet zu wer-
den. Das war ihnen zu hoch und abgeschmackt, Schön-
geisterei.

Den Widerwillen gegen die staatsrechtlich argumentie-
rende Bürokratie, die sich allerhand auf ihr akademisches
Wissen zugute tat, teilte auch Herr von Bismarck. Nicht
dass er Volksrechte geltend machte, wie sollte er auch?
Dem Deichhauptmann war die "Schreiberkaste" zuwider.
Er fand vielmehr die delikaten Worte: "Die Bürokratie ist
krebsfrässig an Haupt und Gliedern. Nur ihr Magen ist
gesund, und die Gesetzesexkremente, die sie von sich gibt,
sind der natürlichste Dreck von der Welt" 95). Man beachte
den Neid in der Magenfrage und die Anspielung aufs
Naturrecht, das damals noch im Gelehrtentum spukte!


überrumpelt. Alle Kronen schmiedete er gewaltsam zum
Ring, und daran band er ein grosses Volk in entsetzlicher,
heute dem Volke noch kaum zu Bewusstsein gekommener
Sklaverei. Wenn aber sein System nun zusammenbrach?
Das Erfolgsystem, das Gewaltsystem, das Betrugsystem, die
moralische Freibeuterei? Was blieb dann vom Deutschtum
übrig? Was mehr als ein Jammer?

„Roter Reaktionär, riecht nach Blut, später zu gebrau-
chen“, soll Friedrich Wilhelm IV. gesagt haben, als er
Bismarck fürs Erste von der Ministerliste strich 94). Der
verschuldete, arme und hungrige Landjunker Bismarck war
ein Kind seiner romantischen Zeit. Als Romantiker las er
Byron und Shakespeare, als Junker den Macchiavell. Es
war die Zeit, da erbötige Hegelianer die Offenbarungen
der Weltseele übersetzten in den Jargon der preussischen
Bürokratie, und einer von ihnen schrieb eine Rechts- und
Staatsgeschichte, worin der preussische Staat auftrat als
Riesenharfe, ausgespannt im Garten Gottes, um den Welt-
choral zu leiten. Gegen diese Bürokratie, deren Pünktlich-
keit, Ordnung und Stabilität das Königtum stützte, kämpften
die Junker. Für sie brauchte die Vernunft der preussischen
Monarchie nicht erst aus der Weltseele abgeleitet zu wer-
den. Das war ihnen zu hoch und abgeschmackt, Schön-
geisterei.

Den Widerwillen gegen die staatsrechtlich argumentie-
rende Bürokratie, die sich allerhand auf ihr akademisches
Wissen zugute tat, teilte auch Herr von Bismarck. Nicht
dass er Volksrechte geltend machte, wie sollte er auch?
Dem Deichhauptmann war die „Schreiberkaste“ zuwider.
Er fand vielmehr die delikaten Worte: „Die Bürokratie ist
krebsfrässig an Haupt und Gliedern. Nur ihr Magen ist
gesund, und die Gesetzesexkremente, die sie von sich gibt,
sind der natürlichste Dreck von der Welt“ 95). Man beachte
den Neid in der Magenfrage und die Anspielung aufs
Naturrecht, das damals noch im Gelehrtentum spukte!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0221" n="213"/><lb/>
überrumpelt. Alle Kronen schmiedete er gewaltsam zum<lb/>
Ring, und daran band er ein grosses Volk in entsetzlicher,<lb/>
heute dem Volke noch kaum zu Bewusstsein gekommener<lb/>
Sklaverei. Wenn aber sein System nun zusammenbrach?<lb/>
Das Erfolgsystem, das Gewaltsystem, das Betrugsystem, die<lb/>
moralische Freibeuterei? Was blieb dann vom Deutschtum<lb/>
übrig? Was mehr als ein Jammer?</p><lb/>
          <p>&#x201E;Roter Reaktionär, riecht nach Blut, später zu gebrau-<lb/>
chen&#x201C;, soll Friedrich Wilhelm IV. gesagt haben, als er<lb/>
Bismarck fürs Erste von der Ministerliste strich <note xml:id="id94d" next="id94d94d" place="end" n="94)"/>. Der<lb/>
verschuldete, arme und hungrige Landjunker Bismarck war<lb/>
ein Kind seiner romantischen Zeit. Als Romantiker las er<lb/>
Byron und Shakespeare, als Junker den Macchiavell. Es<lb/>
war die Zeit, da erbötige Hegelianer die Offenbarungen<lb/>
der Weltseele übersetzten in den Jargon der preussischen<lb/>
Bürokratie, und einer von ihnen schrieb eine Rechts- und<lb/>
Staatsgeschichte, worin der preussische Staat auftrat als<lb/>
Riesenharfe, ausgespannt im Garten Gottes, um den Welt-<lb/>
choral zu leiten. Gegen diese Bürokratie, deren Pünktlich-<lb/>
keit, Ordnung und Stabilität das Königtum stützte, kämpften<lb/>
die Junker. Für sie brauchte die Vernunft der preussischen<lb/>
Monarchie nicht erst aus der Weltseele abgeleitet zu wer-<lb/>
den. Das war ihnen zu hoch und abgeschmackt, Schön-<lb/>
geisterei.</p><lb/>
          <p>Den Widerwillen gegen die staatsrechtlich argumentie-<lb/>
rende Bürokratie, die sich allerhand auf ihr akademisches<lb/>
Wissen zugute tat, teilte auch Herr von Bismarck. Nicht<lb/>
dass er Volksrechte geltend machte, wie sollte er auch?<lb/>
Dem Deichhauptmann war die &#x201E;Schreiberkaste&#x201C; zuwider.<lb/>
Er fand vielmehr die delikaten Worte: &#x201E;Die Bürokratie ist<lb/>
krebsfrässig an Haupt und Gliedern. Nur ihr Magen ist<lb/>
gesund, und die Gesetzesexkremente, die sie von sich gibt,<lb/>
sind der natürlichste Dreck von der Welt&#x201C; <note xml:id="id95d" next="id95d95d" place="end" n="95)"/>. Man beachte<lb/>
den Neid in der Magenfrage und die Anspielung aufs<lb/>
Naturrecht, das damals noch im Gelehrtentum spukte!</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[213/0221] überrumpelt. Alle Kronen schmiedete er gewaltsam zum Ring, und daran band er ein grosses Volk in entsetzlicher, heute dem Volke noch kaum zu Bewusstsein gekommener Sklaverei. Wenn aber sein System nun zusammenbrach? Das Erfolgsystem, das Gewaltsystem, das Betrugsystem, die moralische Freibeuterei? Was blieb dann vom Deutschtum übrig? Was mehr als ein Jammer? „Roter Reaktionär, riecht nach Blut, später zu gebrau- chen“, soll Friedrich Wilhelm IV. gesagt haben, als er Bismarck fürs Erste von der Ministerliste strich ⁹⁴⁾ . Der verschuldete, arme und hungrige Landjunker Bismarck war ein Kind seiner romantischen Zeit. Als Romantiker las er Byron und Shakespeare, als Junker den Macchiavell. Es war die Zeit, da erbötige Hegelianer die Offenbarungen der Weltseele übersetzten in den Jargon der preussischen Bürokratie, und einer von ihnen schrieb eine Rechts- und Staatsgeschichte, worin der preussische Staat auftrat als Riesenharfe, ausgespannt im Garten Gottes, um den Welt- choral zu leiten. Gegen diese Bürokratie, deren Pünktlich- keit, Ordnung und Stabilität das Königtum stützte, kämpften die Junker. Für sie brauchte die Vernunft der preussischen Monarchie nicht erst aus der Weltseele abgeleitet zu wer- den. Das war ihnen zu hoch und abgeschmackt, Schön- geisterei. Den Widerwillen gegen die staatsrechtlich argumentie- rende Bürokratie, die sich allerhand auf ihr akademisches Wissen zugute tat, teilte auch Herr von Bismarck. Nicht dass er Volksrechte geltend machte, wie sollte er auch? Dem Deichhauptmann war die „Schreiberkaste“ zuwider. Er fand vielmehr die delikaten Worte: „Die Bürokratie ist krebsfrässig an Haupt und Gliedern. Nur ihr Magen ist gesund, und die Gesetzesexkremente, die sie von sich gibt, sind der natürlichste Dreck von der Welt“ ⁹⁵⁾ . Man beachte den Neid in der Magenfrage und die Anspielung aufs Naturrecht, das damals noch im Gelehrtentum spukte!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/221
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/221>, abgerufen am 29.04.2024.