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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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die Nation, die ihm zum Opfer fällt, ein Empfinden dafür
zeigt. Aber nicht nur die Gewalt, noch mehr empört seine
pharisäerhafte Unaufrichtigkeit.

Bismarck ist ebenso typisch Protestant wie Junker.
Ja, man kann sagen, dass er dem Begriff des Protestan-
tismus unter Deutschen zu einer Renaissance verholfen
hat: durch Einbeziehung romantischer Kaiserideen, die
wesentlich auf das vorlutheranische Mittelalter zurück-
gingen 102). Als Privatperson: er geht zum Abendmahl,
und Tränen rollen ihm über die Wangen. Es handelt
sich jedoch nicht um das Mysterium der Liebe, sondern
um den Staat, "denn im Reiche dieser Welt hat Er (der
Staat) das Recht und den Vortritt". Er hält Betstunden ab
mit seinem Prediger, aber dem Konsul Michahelles legt er
seines Glaubens Zeugnis ab: "Ja, wir stehen alle in Gottes
Hand, und in solcher Lage ist der beste Trost ein guter
Revolver, damit man die Reise wenigstens nicht allein an-
zutreten braucht" 103). Durch die Ausnahmegesetze gegen
die Sozialisten werden 500 Familien brotlos. Die Höhe
der gerichtlich verhängten Freiheitsstrafen verteilt sich auf
1500 Personen und beläuft sich auf etwa 1000 Jahre. Aber
die berühmte Sozialgesetzgebung, einer der grössten und
verhängnisvollsten Korruptionsversuche aller Zeiten, erfolgt
"im Anschluss an die realen Kräfte des christlichen Volks-
lebens" und ist eine Eingabe "praktischen Christentums",
wie das stehende Heer des Grossen Kurfürsten eine Eingabe
praktischen Christentums und protestantischer Armenpflege
war 104).

Wann überzeugt man sich in Deutschland, dass jener
Mönch von Wittenberg ein Verhängnis war? Oder besteht
noch ein Zweifel, dass infolge seiner Religion Gott selbst
zu Bismarcks Zeiten auf die Deutschen herunterkam? Wenn
Friedrich Naumann fand: "Die katholische Gegenreformation
war das Grab des deutschen Geistes an der Donau", so
nannte man Bismarck den "zweiten Luther", den "grössten

die Nation, die ihm zum Opfer fällt, ein Empfinden dafür
zeigt. Aber nicht nur die Gewalt, noch mehr empört seine
pharisäerhafte Unaufrichtigkeit.

Bismarck ist ebenso typisch Protestant wie Junker.
Ja, man kann sagen, dass er dem Begriff des Protestan-
tismus unter Deutschen zu einer Renaissance verholfen
hat: durch Einbeziehung romantischer Kaiserideen, die
wesentlich auf das vorlutheranische Mittelalter zurück-
gingen 102). Als Privatperson: er geht zum Abendmahl,
und Tränen rollen ihm über die Wangen. Es handelt
sich jedoch nicht um das Mysterium der Liebe, sondern
um den Staat, „denn im Reiche dieser Welt hat Er (der
Staat) das Recht und den Vortritt“. Er hält Betstunden ab
mit seinem Prediger, aber dem Konsul Michahelles legt er
seines Glaubens Zeugnis ab: „Ja, wir stehen alle in Gottes
Hand, und in solcher Lage ist der beste Trost ein guter
Revolver, damit man die Reise wenigstens nicht allein an-
zutreten braucht“ 103). Durch die Ausnahmegesetze gegen
die Sozialisten werden 500 Familien brotlos. Die Höhe
der gerichtlich verhängten Freiheitsstrafen verteilt sich auf
1500 Personen und beläuft sich auf etwa 1000 Jahre. Aber
die berühmte Sozialgesetzgebung, einer der grössten und
verhängnisvollsten Korruptionsversuche aller Zeiten, erfolgt
„im Anschluss an die realen Kräfte des christlichen Volks-
lebens“ und ist eine Eingabe „praktischen Christentums“,
wie das stehende Heer des Grossen Kurfürsten eine Eingabe
praktischen Christentums und protestantischer Armenpflege
war 104).

Wann überzeugt man sich in Deutschland, dass jener
Mönch von Wittenberg ein Verhängnis war? Oder besteht
noch ein Zweifel, dass infolge seiner Religion Gott selbst
zu Bismarcks Zeiten auf die Deutschen herunterkam? Wenn
Friedrich Naumann fand: „Die katholische Gegenreformation
war das Grab des deutschen Geistes an der Donau“, so
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[217/0225] die Nation, die ihm zum Opfer fällt, ein Empfinden dafür zeigt. Aber nicht nur die Gewalt, noch mehr empört seine pharisäerhafte Unaufrichtigkeit. Bismarck ist ebenso typisch Protestant wie Junker. Ja, man kann sagen, dass er dem Begriff des Protestan- tismus unter Deutschen zu einer Renaissance verholfen hat: durch Einbeziehung romantischer Kaiserideen, die wesentlich auf das vorlutheranische Mittelalter zurück- gingen ¹⁰²⁾ . Als Privatperson: er geht zum Abendmahl, und Tränen rollen ihm über die Wangen. Es handelt sich jedoch nicht um das Mysterium der Liebe, sondern um den Staat, „denn im Reiche dieser Welt hat Er (der Staat) das Recht und den Vortritt“. Er hält Betstunden ab mit seinem Prediger, aber dem Konsul Michahelles legt er seines Glaubens Zeugnis ab: „Ja, wir stehen alle in Gottes Hand, und in solcher Lage ist der beste Trost ein guter Revolver, damit man die Reise wenigstens nicht allein an- zutreten braucht“ ¹⁰³⁾ . Durch die Ausnahmegesetze gegen die Sozialisten werden 500 Familien brotlos. Die Höhe der gerichtlich verhängten Freiheitsstrafen verteilt sich auf 1500 Personen und beläuft sich auf etwa 1000 Jahre. Aber die berühmte Sozialgesetzgebung, einer der grössten und verhängnisvollsten Korruptionsversuche aller Zeiten, erfolgt „im Anschluss an die realen Kräfte des christlichen Volks- lebens“ und ist eine Eingabe „praktischen Christentums“, wie das stehende Heer des Grossen Kurfürsten eine Eingabe praktischen Christentums und protestantischer Armenpflege war ¹⁰⁴⁾ . Wann überzeugt man sich in Deutschland, dass jener Mönch von Wittenberg ein Verhängnis war? Oder besteht noch ein Zweifel, dass infolge seiner Religion Gott selbst zu Bismarcks Zeiten auf die Deutschen herunterkam? Wenn Friedrich Naumann fand: „Die katholische Gegenreformation war das Grab des deutschen Geistes an der Donau“, so nannte man Bismarck den „zweiten Luther“, den „grössten

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/225>, abgerufen am 29.04.2024.