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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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lösungsbetrieb ableiteten. Demut, Schuldgefühl und Zer-
knirschung beruhen auf freimütiger Einsicht und sind
Postulate hoher moralischer Selbstverpflichtung, die nicht
fürs Gesetzbuch dogmatischer Verfassungen taugen. An
die Liebesgebote Christi, wie sie einfach und aller Kreatur
verständlich, die Bergpredigt enthielt, knüpfte Paulus, der
bekehrte Rabbiner, seine persönliche Interpretation der per-
sönlichen Tragödie Christi, und die Lehre vom Opfertod
eines Gottmenschen mit all ihrer tiefen, aber auch volks-
fremden und schwerverständlichen Symbolik sicherte der
kirchlichen Intelligenz die Suprematie über den Laien-
verstand.

Positive Pragmatik und jüdische Exaltationslust haben
das Werk eines Meisters entstellt und ein verderbliches
Regiment für die Seelen errichtet. Im 4. Jahrhundert schloss
die Kirche einen Kompromiss mit dem heidnischen Staat,
wovon sogar Iwan Karamasow gesteht, dass es eher einem
irdischen Königreiche entsprechen sollte, sich in die Kirche
zu transformieren und auf Ziele zu verzichten, die mit der
Kirche nicht in Einklang zu bringen sind, als umgekehrt.
Und im 10. Jahrhundert schloss die Kirche einen weiteren
Kompromiss, mit der Wildheit deutscher Könige, denen sie
die Würde von Schutzherren und "Kaisern der Christen-
heit" gegen die Zusicherung der Verbreitung des Christen-
glaubens durch das Schwert übertrug. Die theologische
und die feudale Aristokratie gingen ein patriarchalisches
Bündnis ein, das trotz aller gegenseitigen Befehdungen in
Fragen des Vorrangs eine universale Intelligenz- und Militär-
Despotie über einer gemeinsamen Herde errichtete, die all
ihren Besitz an Leib und Geist, an Gut und Blut bewusst
darzubringen und zu opfern hatte. Der Universalstaat und
seine wohlbestallten geistigen und weltlichen Beamte ver-
walten mit abgefeimter Arroganz die gesamte Arbeitskraft
leibeigener Sklaven. Die "gottgewollte Gesellschaftsordnung",
die "gottgewollten Abhängigkeiten", die "gottgewollten

lösungsbetrieb ableiteten. Demut, Schuldgefühl und Zer-
knirschung beruhen auf freimütiger Einsicht und sind
Postulate hoher moralischer Selbstverpflichtung, die nicht
fürs Gesetzbuch dogmatischer Verfassungen taugen. An
die Liebesgebote Christi, wie sie einfach und aller Kreatur
verständlich, die Bergpredigt enthielt, knüpfte Paulus, der
bekehrte Rabbiner, seine persönliche Interpretation der per-
sönlichen Tragödie Christi, und die Lehre vom Opfertod
eines Gottmenschen mit all ihrer tiefen, aber auch volks-
fremden und schwerverständlichen Symbolik sicherte der
kirchlichen Intelligenz die Suprematie über den Laien-
verstand.

Positive Pragmatik und jüdische Exaltationslust haben
das Werk eines Meisters entstellt und ein verderbliches
Regiment für die Seelen errichtet. Im 4. Jahrhundert schloss
die Kirche einen Kompromiss mit dem heidnischen Staat,
wovon sogar Iwan Karamasow gesteht, dass es eher einem
irdischen Königreiche entsprechen sollte, sich in die Kirche
zu transformieren und auf Ziele zu verzichten, die mit der
Kirche nicht in Einklang zu bringen sind, als umgekehrt.
Und im 10. Jahrhundert schloss die Kirche einen weiteren
Kompromiss, mit der Wildheit deutscher Könige, denen sie
die Würde von Schutzherren und „Kaisern der Christen-
heit“ gegen die Zusicherung der Verbreitung des Christen-
glaubens durch das Schwert übertrug. Die theologische
und die feudale Aristokratie gingen ein patriarchalisches
Bündnis ein, das trotz aller gegenseitigen Befehdungen in
Fragen des Vorrangs eine universale Intelligenz- und Militär-
Despotie über einer gemeinsamen Herde errichtete, die all
ihren Besitz an Leib und Geist, an Gut und Blut bewusst
darzubringen und zu opfern hatte. Der Universalstaat und
seine wohlbestallten geistigen und weltlichen Beamte ver-
walten mit abgefeimter Arroganz die gesamte Arbeitskraft
leibeigener Sklaven. Die „gottgewollte Gesellschaftsordnung“,
die „gottgewollten Abhängigkeiten“, die „gottgewollten

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[230/0238] lösungsbetrieb ableiteten. Demut, Schuldgefühl und Zer- knirschung beruhen auf freimütiger Einsicht und sind Postulate hoher moralischer Selbstverpflichtung, die nicht fürs Gesetzbuch dogmatischer Verfassungen taugen. An die Liebesgebote Christi, wie sie einfach und aller Kreatur verständlich, die Bergpredigt enthielt, knüpfte Paulus, der bekehrte Rabbiner, seine persönliche Interpretation der per- sönlichen Tragödie Christi, und die Lehre vom Opfertod eines Gottmenschen mit all ihrer tiefen, aber auch volks- fremden und schwerverständlichen Symbolik sicherte der kirchlichen Intelligenz die Suprematie über den Laien- verstand. Positive Pragmatik und jüdische Exaltationslust haben das Werk eines Meisters entstellt und ein verderbliches Regiment für die Seelen errichtet. Im 4. Jahrhundert schloss die Kirche einen Kompromiss mit dem heidnischen Staat, wovon sogar Iwan Karamasow gesteht, dass es eher einem irdischen Königreiche entsprechen sollte, sich in die Kirche zu transformieren und auf Ziele zu verzichten, die mit der Kirche nicht in Einklang zu bringen sind, als umgekehrt. Und im 10. Jahrhundert schloss die Kirche einen weiteren Kompromiss, mit der Wildheit deutscher Könige, denen sie die Würde von Schutzherren und „Kaisern der Christen- heit“ gegen die Zusicherung der Verbreitung des Christen- glaubens durch das Schwert übertrug. Die theologische und die feudale Aristokratie gingen ein patriarchalisches Bündnis ein, das trotz aller gegenseitigen Befehdungen in Fragen des Vorrangs eine universale Intelligenz- und Militär- Despotie über einer gemeinsamen Herde errichtete, die all ihren Besitz an Leib und Geist, an Gut und Blut bewusst darzubringen und zu opfern hatte. Der Universalstaat und seine wohlbestallten geistigen und weltlichen Beamte ver- walten mit abgefeimter Arroganz die gesamte Arbeitskraft leibeigener Sklaven. Die „gottgewollte Gesellschaftsordnung“, die „gottgewollten Abhängigkeiten“, die „gottgewollten

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/238>, abgerufen am 29.04.2024.