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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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verdarb die Literatur; Schiller und Kleist wurden seine Opfer 41).
Der Gegensatz zwischen Instinkt und Konstruktion, zwischen
Zweck und Gefühl, das Misstrauen gegen jede geniale
Aeusserung lähmten den Enthusiasmus, massregelten die
Empfindung. Die rückständigen Liebesbegriffe des Pfarrhauses
und die gedrillte Schulfuchserei einer beaufsichtigenden
Gelehrtenrepublik machten aus einem "brav Kerl, dem was
Rechts aus den Augen leuchtet" 42) einen Traktätchenverfasser,
der Gift und Galle spie, wenn man ihn reizte, in Filz-
pantoffeln seine Hämorrhoiden pflegte und artig ersonnene
Weltordnungen mit kitzlicher Knifflichkeit appretierte.

Ist es Heroismus, wenn Schiller aus einem Entwurf, den
er privatim der "Schamhaftigkeit der Dichter" zu widmen
gedachte, für eine hochgelahrte und pastorale Oeffentlichkeit
eine Abhandlung machte, der er den stelzenden Titel
"Ueber die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts"
gab? Ist der Sinn des Humanitätsideals tragisch, weil
Goethe und Schiller sich verabredeten, Trauerspiele zu
schreiben? Goethe lehnte nur deshalb ab, Lustspiele zu
machen, "weil wir", wie er sagte, "kein gesellschaftliches
Leben haben" 43). Das Barockpathos, das Schiller seinen
Helden und Versen verlieh 44), war weniger mutig als die
frondierende Natürlichkeit, die Goethe hinter dem Gemeinde-
ratstitel behauptete 45).

Charakter haben zu müssen im Sinne der theologisch-
gelehrten Zeitkonvenienz war das Verhängnis der Geister,
wie heute Verhängnis ist, Charakter haben zu müssen im
Sinne der Staatspropaganda und des perfekten Durchhalte-
systems. Das Unglück Werthers und der Romantiker --
worin bestand es, wenn nicht in der geistigen Refraktion,
in der Unfähigkeit, den gewünschten "Charakter" liefern zu
können vor Reizbarkeit, Schwäche und Ueberschwang?
Herder schreibt 1795 an die Gräfin Baudissin über "Wilhelm
Meisters Lehrjahre": "Ich kann weder in der Kunst noch
im Leben vertragen, dass dem, was man Talent nennt,

verdarb die Literatur; Schiller und Kleist wurden seine Opfer 41).
Der Gegensatz zwischen Instinkt und Konstruktion, zwischen
Zweck und Gefühl, das Misstrauen gegen jede geniale
Aeusserung lähmten den Enthusiasmus, massregelten die
Empfindung. Die rückständigen Liebesbegriffe des Pfarrhauses
und die gedrillte Schulfuchserei einer beaufsichtigenden
Gelehrtenrepublik machten aus einem „brav Kerl, dem was
Rechts aus den Augen leuchtet“ 42) einen Traktätchenverfasser,
der Gift und Galle spie, wenn man ihn reizte, in Filz-
pantoffeln seine Hämorrhoiden pflegte und artig ersonnene
Weltordnungen mit kitzlicher Knifflichkeit appretierte.

Ist es Heroismus, wenn Schiller aus einem Entwurf, den
er privatim der „Schamhaftigkeit der Dichter“ zu widmen
gedachte, für eine hochgelahrte und pastorale Oeffentlichkeit
eine Abhandlung machte, der er den stelzenden Titel
„Ueber die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“
gab? Ist der Sinn des Humanitätsideals tragisch, weil
Goethe und Schiller sich verabredeten, Trauerspiele zu
schreiben? Goethe lehnte nur deshalb ab, Lustspiele zu
machen, „weil wir“, wie er sagte, „kein gesellschaftliches
Leben haben“ 43). Das Barockpathos, das Schiller seinen
Helden und Versen verlieh 44), war weniger mutig als die
frondierende Natürlichkeit, die Goethe hinter dem Gemeinde-
ratstitel behauptete 45).

Charakter haben zu müssen im Sinne der theologisch-
gelehrten Zeitkonvenienz war das Verhängnis der Geister,
wie heute Verhängnis ist, Charakter haben zu müssen im
Sinne der Staatspropaganda und des perfekten Durchhalte-
systems. Das Unglück Werthers und der Romantiker —
worin bestand es, wenn nicht in der geistigen Refraktion,
in der Unfähigkeit, den gewünschten „Charakter“ liefern zu
können vor Reizbarkeit, Schwäche und Ueberschwang?
Herder schreibt 1795 an die Gräfin Baudissin über „Wilhelm
Meisters Lehrjahre“: „Ich kann weder in der Kunst noch
im Leben vertragen, dass dem, was man Talent nennt,

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[69/0077] verdarb die Literatur; Schiller und Kleist wurden seine Opfer ⁴¹⁾ . Der Gegensatz zwischen Instinkt und Konstruktion, zwischen Zweck und Gefühl, das Misstrauen gegen jede geniale Aeusserung lähmten den Enthusiasmus, massregelten die Empfindung. Die rückständigen Liebesbegriffe des Pfarrhauses und die gedrillte Schulfuchserei einer beaufsichtigenden Gelehrtenrepublik machten aus einem „brav Kerl, dem was Rechts aus den Augen leuchtet“ ⁴²⁾ einen Traktätchenverfasser, der Gift und Galle spie, wenn man ihn reizte, in Filz- pantoffeln seine Hämorrhoiden pflegte und artig ersonnene Weltordnungen mit kitzlicher Knifflichkeit appretierte. Ist es Heroismus, wenn Schiller aus einem Entwurf, den er privatim der „Schamhaftigkeit der Dichter“ zu widmen gedachte, für eine hochgelahrte und pastorale Oeffentlichkeit eine Abhandlung machte, der er den stelzenden Titel „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“ gab? Ist der Sinn des Humanitätsideals tragisch, weil Goethe und Schiller sich verabredeten, Trauerspiele zu schreiben? Goethe lehnte nur deshalb ab, Lustspiele zu machen, „weil wir“, wie er sagte, „kein gesellschaftliches Leben haben“ ⁴³⁾ . Das Barockpathos, das Schiller seinen Helden und Versen verlieh ⁴⁴⁾ , war weniger mutig als die frondierende Natürlichkeit, die Goethe hinter dem Gemeinde- ratstitel behauptete ⁴⁵⁾ . Charakter haben zu müssen im Sinne der theologisch- gelehrten Zeitkonvenienz war das Verhängnis der Geister, wie heute Verhängnis ist, Charakter haben zu müssen im Sinne der Staatspropaganda und des perfekten Durchhalte- systems. Das Unglück Werthers und der Romantiker — worin bestand es, wenn nicht in der geistigen Refraktion, in der Unfähigkeit, den gewünschten „Charakter“ liefern zu können vor Reizbarkeit, Schwäche und Ueberschwang? Herder schreibt 1795 an die Gräfin Baudissin über „Wilhelm Meisters Lehrjahre“: „Ich kann weder in der Kunst noch im Leben vertragen, dass dem, was man Talent nennt,

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/77>, abgerufen am 29.04.2024.