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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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treibt und durch solches Phantasiespiel belustigt. Jmmerhin ist das pba_138.002
Genre beschränkt und bedarf besonderer Anmut der Form, um zu gefallen.

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Ueberhaupt läßt sich für das Epigramm das Gesetz aussprechen, pba_138.004
daß die Bedeutuug seines ethischen Gehaltes und der Scharfsinn seiner pba_138.005
Gestaltung in Form von Erwartung und Aufschluß in umgekehrt proportionalem pba_138.006
Verhältnis stehen; was auf der einen Seite nachgelassen pba_138.007
wird, muß in um so höherem Grade auf der anderen geleistet werden. pba_138.008
Deshalb suchen wir bei einem Dichter, der den Schwerpunkt seiner Produktion pba_138.009
in diese poetische Gattung gelegt hat, vor allem in seinen Gedichten pba_138.010
die Abspiegelung seiner Gefühls- und Gemütsart, seiner Gesinnung; so pba_138.011
z. B. bei unserem Logau! Was ihn uns wert macht, ist sein charaktervolles pba_138.012
Ethos: sein echt deutsches Herz, seine Vaterlandsliebe, sein patriotischer pba_138.013
Zorn, sein gerader, unbestechlicher und kerniger Sinn, seine herzliche pba_138.014
Freude am Guten, Einfachen, Naturgemäßen, seine herbe Verachtung pba_138.015
alles Falschen, Unwahren, Gekünstelten und Widernatürlichen. Freilich pba_138.016
besitzt er auch den Witz, Scharfsinn und die spezifische Phantasie des pba_138.017
Epigrammatikers in hohem Grade; doch in einer großen Zahl seiner pba_138.018
Stücke, und sehr inhaltreichen, ist die epigrammatische Form nur wenig pba_138.019
ausgeprägt, mitunter so schwach, daß sie nur noch als Sinnsprüche zu pba_138.020
bezeichnen sind. So ist in den folgenden der Gedanke wenigstens noch pba_138.021
in gegensätzlicher Fassung ausgesprochen:

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Wer seinem Willen lebt, lebt ohne Zweifel wohl; pba_138.023
Doch dann erst, wenn er will nicht anders, als er soll.
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oder:

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Witz, der nur auf Vorteil gehet, ist nicht Witz, er ist nur Tücke. pba_138.026
Rechter Witz übt nur was redlich, weiß von keinem krummen Stücke.
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und:

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Fang alles an mit Wohlbedacht; führ alles mit Bestand: pba_138.029
Was drüber dir begegnen mag, da nimm Geduld zur Hand.
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Noch schwächer ist die Form von Erwartung und Aufschluß vorhanden pba_138.031
in Sprüchen wie diese:

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Freunde muß man sich erwählen pba_138.033
Nur nach wägen, nicht nach zählen.
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oder vollends:

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Freude, Mäßigkeit und Ruh pba_138.036
Schließt dem Arzt die Thüre zu.
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Wer Sünde weiß zu scheuen, pba_138.039
Der darf sie nie bereuen.

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treibt und durch solches Phantasiespiel belustigt. Jmmerhin ist das pba_138.002
Genre beschränkt und bedarf besonderer Anmut der Form, um zu gefallen.

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Ueberhaupt läßt sich für das Epigramm das Gesetz aussprechen, pba_138.004
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Doch dann erst, wenn er will nicht anders, als er soll.
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Rechter Witz übt nur was redlich, weiß von keinem krummen Stücke.
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Freude, Mäßigkeit und Ruh pba_138.036
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/156>, abgerufen am 29.04.2024.