Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_450.001 pba_450.023 pba_450.025 1 pba_450.033
Dennoch sind nach Heinzes Vorgang von den oben genannten Recensenten pba_450.034 der cit. Schrift des Verf. diese Zweifel erhoben. Der Grund mag sein, daß der Verf., pba_450.035 auf die Kraft der aristotelischen Gedanken vertrauend, in jener Abhandlung das Streben pba_450.036 nach Knappheit vielleicht zu weit getrieben hat. Nur so vermag er sich das Stutzen pba_450.037 und die scharfen Reprobationen zu erklären, die es bei den Rec. hervorgerufen hat, pba_450.038 wenn er der Kürze wegen ohne eingehendere Begründung in den am meisten dazu pba_450.039 auffordernden Fällen dort den Ausdruck pathemata durch "Erscheinungsformen" pba_450.040 des Pathos oder durch "unvollkommene Erscheinungsformen" umschrieben hat. pba_450.001 pba_450.023 pba_450.025 1 pba_450.033
Dennoch sind nach Heinzes Vorgang von den oben genannten Recensenten pba_450.034 der cit. Schrift des Verf. diese Zweifel erhoben. Der Grund mag sein, daß der Verf., pba_450.035 auf die Kraft der aristotelischen Gedanken vertrauend, in jener Abhandlung das Streben pba_450.036 nach Knappheit vielleicht zu weit getrieben hat. Nur so vermag er sich das Stutzen pba_450.037 und die scharfen Reprobationen zu erklären, die es bei den Rec. hervorgerufen hat, pba_450.038 wenn er der Kürze wegen ohne eingehendere Begründung in den am meisten dazu pba_450.039 auffordernden Fällen dort den Ausdruck παθήματα durch „Erscheinungsformen“ pba_450.040 des Pathos oder durch „unvollkommene Erscheinungsformen“ umschrieben hat. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0468" n="450"/><lb n="pba_450.001"/> oder unrichtigen Anlasses, der rechten oder unrechten Stelle. Unter <lb n="pba_450.002"/> diesen zahllosen Pathemata, die also die unendlich verschiedenen Gestalten, <lb n="pba_450.003"/> Formen aufweisen, in denen sich die Grundempfindung verwirklichen <lb n="pba_450.004"/> kann, für welche die Sprachen nur verhältnismäßig wenige Bezeichnungen <lb n="pba_450.005"/> ausgebildet haben, und zwar die verschiedenen Sprachen <lb n="pba_450.006"/> verschiedene, sehr viele sind unbekannt — <foreign xml:lang="grc">ἀνώνυμα</foreign> — geblieben, gibt <lb n="pba_450.007"/> es immer nur <hi rendition="#g">eine einzige,</hi> die die richtige ist: das Richtige ist eins, <lb n="pba_450.008"/> einfach, eingestaltig — <foreign xml:lang="grc">μοναχῶς</foreign> —, das Falsche vielfach, vielgestaltig <lb n="pba_450.009"/> — <foreign xml:lang="grc">πολλαχῶς</foreign> —. Auch in dieser <hi rendition="#g">einen,</hi> allein richtigen <hi rendition="#g">Form</hi> wird die <lb n="pba_450.010"/> Empfindung natürlich, insofern sie sich im einzelnen Falle bei dem einzelnen <lb n="pba_450.011"/> Menschen verwirklicht, zu einem <hi rendition="#g">Pathema,</hi> aber zu einem Pathema, welches <lb n="pba_450.012"/> das Wesen des entsprechenden <hi rendition="#g">Grundpathos</hi> zur vollen, normalen Erscheinung <lb n="pba_450.013"/> bringt. <hi rendition="#g">Wie kann es nun</hi> aber, gegenüber dieser von allen <lb n="pba_450.014"/> anerkannten Lehre des Aristoteles, wenn in der <hi rendition="#g">Mehrzahl schlechthin</hi> <lb n="pba_450.015"/> von den einer Grundempfindung <hi rendition="#g">entsprechenden Pathemata</hi> — <lb n="pba_450.016"/> — den <foreign xml:lang="grc">τοιαῦτα παθήματα</foreign> — gesprochen wird, <hi rendition="#g">zweifelhaft sein, daß <lb n="pba_450.017"/> dabei eben an jene unendliche, in ihren Einzelheiten mit <lb n="pba_450.018"/> Genauigkeit gar nicht bestimmbare Vielheit der von der <lb n="pba_450.019"/> einen Normalform mehr oder minder abweichenden Formen <lb n="pba_450.020"/> der thatsächlichen Verwirklichung jener Grundempfindung <lb n="pba_450.021"/> zu denken ist, also an ihre unvollkommeneren Erscheinungsformen?</hi><note xml:id="pba_450_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_450.033"/> Dennoch sind nach <hi rendition="#g">Heinzes</hi> Vorgang von den oben genannten Recensenten <lb n="pba_450.034"/> der cit. Schrift des Verf. diese Zweifel erhoben. Der Grund mag sein, daß der Verf., <lb n="pba_450.035"/> auf die Kraft der aristotelischen Gedanken vertrauend, in jener Abhandlung das Streben <lb n="pba_450.036"/> nach Knappheit vielleicht zu weit getrieben hat. Nur so vermag er sich das Stutzen <lb n="pba_450.037"/> und die scharfen Reprobationen zu erklären, die es bei den Rec. hervorgerufen hat, <lb n="pba_450.038"/> wenn er der Kürze wegen ohne eingehendere Begründung in den am meisten dazu <lb n="pba_450.039"/> auffordernden Fällen dort den Ausdruck <foreign xml:lang="grc">παθήματα</foreign> durch „Erscheinungs<hi rendition="#g">formen</hi>“ <lb n="pba_450.040"/> des Pathos oder durch „unvollkommene Erscheinungsformen“ umschrieben hat.</note></p> <lb n="pba_450.022"/> <p><lb n="pba_450.023"/> Somit zum Schluß dieser unerwünschten, aber durch den Gegenstreit <lb n="pba_450.024"/> erzwungenen philologischen Erörterung!</p> <p><lb n="pba_450.025"/> Wenn die Wirkung, auf deren Erzielung die Tragödie eingerichtet <lb n="pba_450.026"/> werden soll, durch deren Klarstellung sie also ihrem Wesen nach definiert <lb n="pba_450.027"/> wird, von Aristoteles so erklärt ist, daß sie „<hi rendition="#g">durch Furcht und Mitleid <lb n="pba_450.028"/> die völlige Läuterung der derartigen,</hi> d. h. <hi rendition="#g">der diesen <lb n="pba_450.029"/> Grundempfindungen entsprechenden Pathemata bewirke</hi> (<foreign xml:lang="grc">περαίνουσα</foreign> <lb n="pba_450.030"/> d. i. „<hi rendition="#g">völlig</hi>“, bis zum Ende durchführe): so sind darin die <lb n="pba_450.031"/> höchst objektiven, nur die Kompositionsweise des Kunstwerkes erläuternden <lb n="pba_450.032"/> Bestimmungen ausgesprochen, daß:</p> </div> </body> </text> </TEI> [450/0468]
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oder unrichtigen Anlasses, der rechten oder unrechten Stelle. Unter pba_450.002
diesen zahllosen Pathemata, die also die unendlich verschiedenen Gestalten, pba_450.003
Formen aufweisen, in denen sich die Grundempfindung verwirklichen pba_450.004
kann, für welche die Sprachen nur verhältnismäßig wenige Bezeichnungen pba_450.005
ausgebildet haben, und zwar die verschiedenen Sprachen pba_450.006
verschiedene, sehr viele sind unbekannt — ἀνώνυμα — geblieben, gibt pba_450.007
es immer nur eine einzige, die die richtige ist: das Richtige ist eins, pba_450.008
einfach, eingestaltig — μοναχῶς —, das Falsche vielfach, vielgestaltig pba_450.009
— πολλαχῶς —. Auch in dieser einen, allein richtigen Form wird die pba_450.010
Empfindung natürlich, insofern sie sich im einzelnen Falle bei dem einzelnen pba_450.011
Menschen verwirklicht, zu einem Pathema, aber zu einem Pathema, welches pba_450.012
das Wesen des entsprechenden Grundpathos zur vollen, normalen Erscheinung pba_450.013
bringt. Wie kann es nun aber, gegenüber dieser von allen pba_450.014
anerkannten Lehre des Aristoteles, wenn in der Mehrzahl schlechthin pba_450.015
von den einer Grundempfindung entsprechenden Pathemata — pba_450.016
— den τοιαῦτα παθήματα — gesprochen wird, zweifelhaft sein, daß pba_450.017
dabei eben an jene unendliche, in ihren Einzelheiten mit pba_450.018
Genauigkeit gar nicht bestimmbare Vielheit der von der pba_450.019
einen Normalform mehr oder minder abweichenden Formen pba_450.020
der thatsächlichen Verwirklichung jener Grundempfindung pba_450.021
zu denken ist, also an ihre unvollkommeneren Erscheinungsformen? 1
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Somit zum Schluß dieser unerwünschten, aber durch den Gegenstreit pba_450.024
erzwungenen philologischen Erörterung!
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Wenn die Wirkung, auf deren Erzielung die Tragödie eingerichtet pba_450.026
werden soll, durch deren Klarstellung sie also ihrem Wesen nach definiert pba_450.027
wird, von Aristoteles so erklärt ist, daß sie „durch Furcht und Mitleid pba_450.028
die völlige Läuterung der derartigen, d. h. der diesen pba_450.029
Grundempfindungen entsprechenden Pathemata bewirke (περαίνουσα pba_450.030
d. i. „völlig“, bis zum Ende durchführe): so sind darin die pba_450.031
höchst objektiven, nur die Kompositionsweise des Kunstwerkes erläuternden pba_450.032
Bestimmungen ausgesprochen, daß:
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Dennoch sind nach Heinzes Vorgang von den oben genannten Recensenten pba_450.034
der cit. Schrift des Verf. diese Zweifel erhoben. Der Grund mag sein, daß der Verf., pba_450.035
auf die Kraft der aristotelischen Gedanken vertrauend, in jener Abhandlung das Streben pba_450.036
nach Knappheit vielleicht zu weit getrieben hat. Nur so vermag er sich das Stutzen pba_450.037
und die scharfen Reprobationen zu erklären, die es bei den Rec. hervorgerufen hat, pba_450.038
wenn er der Kürze wegen ohne eingehendere Begründung in den am meisten dazu pba_450.039
auffordernden Fällen dort den Ausdruck παθήματα durch „Erscheinungsformen“ pba_450.040
des Pathos oder durch „unvollkommene Erscheinungsformen“ umschrieben hat.
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