Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_473.001 ostis pephasmai phus t' aph' on ou khren pba_473.016 pba_473.017"Der sproß, von wem er nicht gesollt" -- so hat Jokaste schon früher berichtet (Oedip. Tyr. v. 711 ff.): pba_473.018khresmos gar elthe La Io pot', ouk ero pba_473.019 Phoibou g' ap' autou, ton d' upereton apo, pba_473.020 os auton exoi moira pros paidos thanein, pba_473.021 ostis genoit' emou te kakeinou para. pba_473.022 "Einst ward ein Spruch dem Laios, ich behaupte nicht pba_473.023 Von Phöbos selbst, nein, aus der Diener Munde nur: pba_473.024 Jhm sei das Los beschieden, durch des Sohnes Hand pba_473.025 Zu sterben, den er zeugen würd' aus meinem Schoß." pba_473.026 pba_473.039 pba_473.001 ὅστις πέφασμαι φύς τ' ἀφ' ὧν οὐ χρῆν pba_473.016 pba_473.017„Der sproß, von wem er nicht gesollt“ — so hat Jokaste schon früher berichtet (Oedip. Tyr. v. 711 ff.): pba_473.018χρησμὸς γὰρ ἦλθε Λα ΐῳ ποτ', οὐκ ἐρῶ pba_473.019 Φοίβου γ' ἀπ' αὐτοῦ, τῶν δ' ὑπηρετῶν ἅπο, pba_473.020 ὡς αὐτὸν ἕξοι μοῖρα πρὸς παιδὸς θανεῖν, pba_473.021 ὅστις γένοιτ' ἐμοῦ τε κἀκείνου πάρα. pba_473.022 „Einst ward ein Spruch dem Laïos, ich behaupte nicht pba_473.023 Von Phöbos selbst, nein, aus der Diener Munde nur: pba_473.024 Jhm sei das Los beschieden, durch des Sohnes Hand pba_473.025 Zu sterben, den er zeugen würd' aus meinem Schoß.“ pba_473.026 pba_473.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0491" n="473"/><lb n="pba_473.001"/> einer göttlichen Vorsehung anzuerkennen die beste menschliche Weisheit <lb n="pba_473.002"/> und der naiv-fromme Glaube zusammenstimmen: diese Grunderfahrung <lb n="pba_473.003"/> ist es, die in jener Sage auf die einfachste Formel gebracht ist. Einer <lb n="pba_473.004"/> ähnlichen Auffassung begegnen wir in dem herben Worte des Alten <lb n="pba_473.005"/> Testamentes, daß die Sünde der Väter an den Kindern heimgesucht <lb n="pba_473.006"/> werde bis ins dritte und vierte Glied. Die Ödipussage enthält nichts <lb n="pba_473.007"/> anderes als die Resultate der gleichen Anschauungsweise, die einzig aus <lb n="pba_473.008"/> dem Grunde uns noch furchtbarer gegenübertritt, weil eben nur das <lb n="pba_473.009"/> letzte Glied der Schlußfolge in dramatischer Lebendigkeit uns vorgeführt <lb n="pba_473.010"/> wird, während die vorangehenden kaum angedeutet werden. Der Fluch, <lb n="pba_473.011"/> der auf Ödipus lastet, und auf den schon sein Name hinweist, ist, daß <hi rendition="#g">er <lb n="pba_473.012"/> überhaupt geboren ist,</hi> der nach dem Spruch der Götter <hi rendition="#g">nicht <lb n="pba_473.013"/> hätte entstehen sollen.</hi> Denn wie Ödipus selbst es ausruft, als <lb n="pba_473.014"/> ihm endlich die volle Wahrheit sich enthüllt (<hi rendition="#aq">Oedip. Tyr. v</hi>. 1184):</p> <lb n="pba_473.015"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq"> <foreign xml:lang="grc">ὅστις πέφασμαι φύς τ' ἀφ' ὧν οὐ χρῆν</foreign> </hi> </l> <lb n="pba_473.016"/> <l>„Der sproß, von wem er nicht gesollt“ —</l> </lg> <lb n="pba_473.017"/> <p>so hat Jokaste schon früher berichtet (<hi rendition="#aq">Oedip. 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Hier zeigt sich auch deutlich, warum die <lb n="pba_473.032"/> Sage auf die Vorgeschichte so geringes Gewicht legt, daß sie sich begnügt, <lb n="pba_473.033"/> sie eben nur ganz kurz zu erwähnen: es ist ihr eben <hi rendition="#g">nichts als diese <lb n="pba_473.034"/> Endwirkung</hi> derselben von Wichtigkeit, die auf die mannigfachsten <lb n="pba_473.035"/> Arten hervorgebracht werden könnte, für welche alle diese Erzählung als <lb n="pba_473.036"/> umfassendes Symbol zu gelten hat. Für die ungeheure tragische Wucht <lb n="pba_473.037"/> der Sage genügt es, daß <hi rendition="#g">diese Wirkung da ist;</hi> ja ihre Wucht wird <lb n="pba_473.038"/> durch das isolierte Auftreten dieser Wirkung noch verstärkt.</p> <p><lb n="pba_473.039"/> Die Fiktionen des naiven Volksglaubens sind von einer symbolischen <lb n="pba_473.040"/> Gewalt, die ihre Verwendung für die Kunst unentbehrlich macht. </p> </div> </body> </text> </TEI> [473/0491]
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einer göttlichen Vorsehung anzuerkennen die beste menschliche Weisheit pba_473.002
und der naiv-fromme Glaube zusammenstimmen: diese Grunderfahrung pba_473.003
ist es, die in jener Sage auf die einfachste Formel gebracht ist. Einer pba_473.004
ähnlichen Auffassung begegnen wir in dem herben Worte des Alten pba_473.005
Testamentes, daß die Sünde der Väter an den Kindern heimgesucht pba_473.006
werde bis ins dritte und vierte Glied. Die Ödipussage enthält nichts pba_473.007
anderes als die Resultate der gleichen Anschauungsweise, die einzig aus pba_473.008
dem Grunde uns noch furchtbarer gegenübertritt, weil eben nur das pba_473.009
letzte Glied der Schlußfolge in dramatischer Lebendigkeit uns vorgeführt pba_473.010
wird, während die vorangehenden kaum angedeutet werden. Der Fluch, pba_473.011
der auf Ödipus lastet, und auf den schon sein Name hinweist, ist, daß er pba_473.012
überhaupt geboren ist, der nach dem Spruch der Götter nicht pba_473.013
hätte entstehen sollen. Denn wie Ödipus selbst es ausruft, als pba_473.014
ihm endlich die volle Wahrheit sich enthüllt (Oedip. Tyr. v. 1184):
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ὅστις πέφασμαι φύς τ' ἀφ' ὧν οὐ χρῆν pba_473.016
„Der sproß, von wem er nicht gesollt“ —
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so hat Jokaste schon früher berichtet (Oedip. Tyr. v. 711 ff.):
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χρησμὸς γὰρ ἦλθε Λα ΐῳ ποτ', οὐκ ἐρῶ pba_473.019
Φοίβου γ' ἀπ' αὐτοῦ, τῶν δ' ὑπηρετῶν ἅπο, pba_473.020
ὡς αὐτὸν ἕξοι μοῖρα πρὸς παιδὸς θανεῖν, pba_473.021
ὅστις γένοιτ' ἐμοῦ τε κἀκείνου πάρα. pba_473.022
„Einst ward ein Spruch dem Laïos, ich behaupte nicht pba_473.023
Von Phöbos selbst, nein, aus der Diener Munde nur: pba_473.024
Jhm sei das Los beschieden, durch des Sohnes Hand pba_473.025
Zu sterben, den er zeugen würd' aus meinem Schoß.“
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Der Fluch, d. h. die Bestimmung zum Unglück, die nach dem pba_473.027
gewöhnlichen, unabänderlichen Lauf der Dinge einem Menschen durch pba_473.028
Umstände, die selbst vor seiner Geburt liegen, also ohne jedes Verschulden pba_473.029
von seiner Seite, mitgegeben sein kann, wäre auf keine Weise pba_473.030
stärker und eindringlicher auszudrücken als es durch das Symbol pba_473.031
dieser Sage geschehen ist. Hier zeigt sich auch deutlich, warum die pba_473.032
Sage auf die Vorgeschichte so geringes Gewicht legt, daß sie sich begnügt, pba_473.033
sie eben nur ganz kurz zu erwähnen: es ist ihr eben nichts als diese pba_473.034
Endwirkung derselben von Wichtigkeit, die auf die mannigfachsten pba_473.035
Arten hervorgebracht werden könnte, für welche alle diese Erzählung als pba_473.036
umfassendes Symbol zu gelten hat. Für die ungeheure tragische Wucht pba_473.037
der Sage genügt es, daß diese Wirkung da ist; ja ihre Wucht wird pba_473.038
durch das isolierte Auftreten dieser Wirkung noch verstärkt.
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Die Fiktionen des naiven Volksglaubens sind von einer symbolischen pba_473.040
Gewalt, die ihre Verwendung für die Kunst unentbehrlich macht.
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