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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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So ist denn auch, damit sich das alles erfülle, eben jener pba_476.002
dem Helden vom Vater her eignende "Fehler", keine Schuld, kein pba_476.003
"schimpfliches Vergehen" von seiner Seite, die äußerlich den Anstoß pba_476.004
gebende Ursache für die Vollziehung eines tragischen Geschickes, von pba_476.005
dem die Sage unter dem Symbol des die Zukunft kündenden Götterspruchs pba_476.006
doch nur aussagt, daß es in Vorbereitung und Vollendung pba_476.007
leicht durch den jähen, ungestümen Sinn, wie er andrerseits zu That pba_476.008
und Erfolg leitet, herbeigezogen wird. Diesen tief verborgenen, pba_476.009
aber unlöslichen Zusammenhang der
"Hamartie" des Helden pba_476.010
mit seinem Leidensschicksal dem Zuhörer zum vollen Bewußtsein pba_476.011
zu bringen,
war die Aufgabe der tragisch-kathartischen pba_476.012
Behandlung des Stoffes durch den Dichter, und zwar nicht so, daß pba_476.013
er damit gleichsam den Schleier von dem geheimnisvollen Rätsel des pba_476.014
Schicksals hinwegzog und an seiner Stelle ein pragmatisch abgestimmtes pba_476.015
Exempel sehen ließ, sondern daß er vom Anbeginn bis zum Ende in den pba_476.016
Leidenden jenen Sinn der leidenschaftlichen Hitze und vermessenen Selbstgewißheit pba_476.017
zur Erscheinung kommen ließ, der, das Gegenteil der pba_476.018
"Furcht", je mehr er den Göttern trotzt, desto mehr ihren pba_476.019
Voraussagungen Recht zu geben scheint.

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Jn solcher Absicht hat Sophokles die Charakterzeichnung und pba_476.021
Handlungsweise des Ödipus und der Jokaste erfunden und sie mit pba_476.022
einer Meisterschaft ohnegleichen Schritt für Schritt bis zu einer Stärke pba_476.023
der Äußerung sich steigern lassen, die in der vollkommensten Weise die pba_476.024
Aufgabe löst: ohne daß der Achtung, die der Held erweckt, pba_476.025
und dem Mitleid mit seinem ungeheuren Geschick der geringste pba_476.026
Abbruch geschieht, wird das Gemüt von der geheimnisvolloffenbaren pba_476.027
Verschwisterung seines Fehlers mit seinem Leiden pba_476.028
so tief und innig durchdrungen, wie nur irgendwo, in pba_476.029
einem Othello oder Lear, Shakespeare diese verhängnisvolle pba_476.030
Verkettung zum Bewußtsein bringt; zugleich wird, indem pba_476.031
die Furcht vor der Übermacht des Geschickes den höchsten pba_476.032
Grad erreicht, sie von den Schrecken des blinden Ungefährs pba_476.033
entlastet, und auf die reine Höhe des vollen Einklanges mit pba_476.034
der Anerkennung göttlich weisen und gerechten Waltens pba_476.035
erhoben. Die Katharsis der tragischen Pathemata ist vollendet!

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Es hieße die Geduld des Lesers ermüden, sollte nun Zug für pba_476.038
Zug dieses Verfahren des Dichters nachgewiesen werden; alles das liegt pba_476.039
klar zu Tage. Nur darauf dürfte noch ein Hinweis erlaubt sein, mit pba_476.040
welcher Weisheit im Gebrauch der ihm zu Gebote stehenden Mittel

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So ist denn auch, damit sich das alles erfülle, eben jener pba_476.002
dem Helden vom Vater her eignende „Fehler“, keine Schuld, kein pba_476.003
schimpfliches Vergehen“ von seiner Seite, die äußerlich den Anstoß pba_476.004
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Hamartiedes Helden pba_476.010
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zur Erscheinung kommen ließ, der, das Gegenteil der pba_476.018
Furcht“, je mehr er den Göttern trotzt, desto mehr ihren pba_476.019
Voraussagungen Recht zu geben scheint.

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Jn solcher Absicht hat Sophokles die Charakterzeichnung und pba_476.021
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Verschwisterung seines Fehlers mit seinem Leiden pba_476.028
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Es hieße die Geduld des Lesers ermüden, sollte nun Zug für pba_476.038
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/494>, abgerufen am 01.11.2024.