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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Kastanienwald.
Hier, im Kastanienwalde, ist Alles genießende Gegenwart, frisches
drängendes Streben, -- hier frohlockt die Seele und schweift in
trunkener Begeisterung den holdesten Phantasieen nach. Er liegt
freilich auch in einer viel tieferen Vegetationszone als jener. Denn
während der alpine Nadelhochwald sich hauptsächlich in der Region
von 3000 bis 5500 Fuß ausbreitet, erreicht der alpine Kastanien¬
wald schon mit 2700 Fuß seine mittlere Gränze und kommt aus¬
nahmsweise bei Soglio im Bergell noch in der Höhe von 3500 Fuß
vor. -- Die schönsten Wälder dieser Art an den Alpen besitzen
Piemont und Welsch-Tyrol. Außerdem ist die Kastanie durchs
ganze südliche Europa verbreitet, deckt im nördlichen Griechenland
große Flächen der Ebene und steigt im mittleren Hellas hoch ins
Gebirge hinauf. In Spanien und Portugal überzieht sie in großen
Beständen die höheren Berge oder bildet einen abschließenden Gür¬
tel unterhalb kalter Spitzen und zeigt sich als massenhafter Wald¬
baum in den Cevennen und im Limousin. Deutschland kennt sie
fast nur vereinzelt als Zierde der Parkanlagen.

Die Edelkastanie oder der Maronenbaum (Fagus castanea
L.
oder Castanea vesca) ist ein ächter Gebirgsbaum des Südens
und nicht zu verwechseln mit der wilden oder Roßkastanie (Aescu¬
lus Hippocastanum L.
), welche ihrer fächerförmigen Aufstellung
der Blätter und daherigen dichten Belaubung halber oft zu An¬
lagen von Alleen benutzt wird. Wuchs und Holz, Blüthen, Laub
und Früchte sind gänzlich verschieden von jener. -- Aber je nach
ihrem Standorte ändert auch die Edelkastanie den physiognomischen
Ausdruck ihrer Stammform und Beastung, so daß man sie als
einzelnstehenden Baum oft beinahe nicht wiedererkennt, wenn man
sie zuvor nur in Waldmasse sah.

Hier (im Walde) wächst der walzenförmige Schaft in männ¬
licher Kühnheit und Frische den Wolken entgegen; Muskelfülle und
ausgiebige Kraft schauen aus jeder Faser. In vermittelnder Ver¬
wandtschaft steht er zwischen der straffen, kernigen Stammform der

Kaſtanienwald.
Hier, im Kaſtanienwalde, iſt Alles genießende Gegenwart, friſches
drängendes Streben, — hier frohlockt die Seele und ſchweift in
trunkener Begeiſterung den holdeſten Phantaſieen nach. Er liegt
freilich auch in einer viel tieferen Vegetationszone als jener. Denn
während der alpine Nadelhochwald ſich hauptſächlich in der Region
von 3000 bis 5500 Fuß ausbreitet, erreicht der alpine Kaſtanien¬
wald ſchon mit 2700 Fuß ſeine mittlere Gränze und kommt aus¬
nahmsweiſe bei Soglio im Bergell noch in der Höhe von 3500 Fuß
vor. — Die ſchönſten Wälder dieſer Art an den Alpen beſitzen
Piemont und Welſch-Tyrol. Außerdem iſt die Kaſtanie durchs
ganze ſüdliche Europa verbreitet, deckt im nördlichen Griechenland
große Flächen der Ebene und ſteigt im mittleren Hellas hoch ins
Gebirge hinauf. In Spanien und Portugal überzieht ſie in großen
Beſtänden die höheren Berge oder bildet einen abſchließenden Gür¬
tel unterhalb kalter Spitzen und zeigt ſich als maſſenhafter Wald¬
baum in den Cevennen und im Limouſin. Deutſchland kennt ſie
faſt nur vereinzelt als Zierde der Parkanlagen.

Die Edelkaſtanie oder der Maronenbaum (Fagus castanea
L.
oder Castanea vesca) iſt ein ächter Gebirgsbaum des Südens
und nicht zu verwechſeln mit der wilden oder Roßkaſtanie (Aescu¬
lus Hippocastanum L.
), welche ihrer fächerförmigen Aufſtellung
der Blätter und daherigen dichten Belaubung halber oft zu An¬
lagen von Alleen benutzt wird. Wuchs und Holz, Blüthen, Laub
und Früchte ſind gänzlich verſchieden von jener. — Aber je nach
ihrem Standorte ändert auch die Edelkaſtanie den phyſiognomiſchen
Ausdruck ihrer Stammform und Beaſtung, ſo daß man ſie als
einzelnſtehenden Baum oft beinahe nicht wiedererkennt, wenn man
ſie zuvor nur in Waldmaſſe ſah.

Hier (im Walde) wächſt der walzenförmige Schaft in männ¬
licher Kühnheit und Friſche den Wolken entgegen; Muskelfülle und
ausgiebige Kraft ſchauen aus jeder Faſer. In vermittelnder Ver¬
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[112/0140] Kaſtanienwald. Hier, im Kaſtanienwalde, iſt Alles genießende Gegenwart, friſches drängendes Streben, — hier frohlockt die Seele und ſchweift in trunkener Begeiſterung den holdeſten Phantaſieen nach. Er liegt freilich auch in einer viel tieferen Vegetationszone als jener. Denn während der alpine Nadelhochwald ſich hauptſächlich in der Region von 3000 bis 5500 Fuß ausbreitet, erreicht der alpine Kaſtanien¬ wald ſchon mit 2700 Fuß ſeine mittlere Gränze und kommt aus¬ nahmsweiſe bei Soglio im Bergell noch in der Höhe von 3500 Fuß vor. — Die ſchönſten Wälder dieſer Art an den Alpen beſitzen Piemont und Welſch-Tyrol. Außerdem iſt die Kaſtanie durchs ganze ſüdliche Europa verbreitet, deckt im nördlichen Griechenland große Flächen der Ebene und ſteigt im mittleren Hellas hoch ins Gebirge hinauf. In Spanien und Portugal überzieht ſie in großen Beſtänden die höheren Berge oder bildet einen abſchließenden Gür¬ tel unterhalb kalter Spitzen und zeigt ſich als maſſenhafter Wald¬ baum in den Cevennen und im Limouſin. Deutſchland kennt ſie faſt nur vereinzelt als Zierde der Parkanlagen. Die Edelkaſtanie oder der Maronenbaum (Fagus castanea L. oder Castanea vesca) iſt ein ächter Gebirgsbaum des Südens und nicht zu verwechſeln mit der wilden oder Roßkaſtanie (Aescu¬ lus Hippocastanum L.), welche ihrer fächerförmigen Aufſtellung der Blätter und daherigen dichten Belaubung halber oft zu An¬ lagen von Alleen benutzt wird. Wuchs und Holz, Blüthen, Laub und Früchte ſind gänzlich verſchieden von jener. — Aber je nach ihrem Standorte ändert auch die Edelkaſtanie den phyſiognomiſchen Ausdruck ihrer Stammform und Beaſtung, ſo daß man ſie als einzelnſtehenden Baum oft beinahe nicht wiedererkennt, wenn man ſie zuvor nur in Waldmaſſe ſah. Hier (im Walde) wächſt der walzenförmige Schaft in männ¬ licher Kühnheit und Friſche den Wolken entgegen; Muskelfülle und ausgiebige Kraft ſchauen aus jeder Faſer. In vermittelnder Ver¬ wandtſchaft ſteht er zwiſchen der ſtraffen, kernigen Stammform der

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/140>, abgerufen am 29.04.2024.