unermeßlichen Schneewolken ausweiten, in deren Umhüllung cy¬ klopische Felsenquadern, wuchtige Eismarren und zerrissene Rasen¬ fetzen ihren Schmetterflug pfeifend und heulend zurücklegen. Was dem freien Auge wie harmlos herabschwebende Schaummasse er¬ schien, wird in der Nähe zur tobend-jagenden Furie; denn es fehlt uns, wie überall in den Alpen, so auch hier für die Entfernung, jeglicher Maßstab, nach welchem die Höhen zu beurtheilen sind, an deren unterbrochen-vertikaler Fläche die Lauine herabstürzt. Würde man die ungefähre Höhe jener Stelle, wo die Lauine sich begrub, in Zahlen von der Höhe des Punktes, an dem sie sich ablöste, subtrahiren und die gewonnene Differenz mit der Summe der Sekunden (so lange das Naturspiel währte) dividiren, so würde man einen Geschwindigkeits-Quotienten für die enorme Fall-Eile er¬ halten, der zugleich den donnernden Gang aufklärte.
Eine Frühjahrs-Grund-Lauine in möglichster Nähe gesehen ist Entsetzen-erregend, fast unbeschreiblich. Alle Worte und Bezeich¬ nungen sind unzureichend, um dieses Chaos, diese völlige Auf¬ lösung, diese gemeinschaftliche, augenblicklich zugleich sich entwickelnde Orkan-, Erdbeben-, Bergsturz- und Gewitter-Erscheinung zu schildern. Aufruhr, Flucht, Zerstörung, Vernichtung, begleitet von rasendem in einander verwobenem Knirschen des sich selbst zerpressenden Schnees, dem stöhnenden Krachen zersplitternder Bäume, dem zischenden Fliegen geschleuderter Felsgesteine und deren krachendem Anprall an die Gebirgswände, schrillem Geprassel, -- genug unde¬ finirbarem, ohrenbetäubendem Getümmel, dessen Echo aus allen Thal-Ecken hundertfältig zurückgeschleudert aufs Neue sich in dieses Wüthen vermengt, das ist der Total-Eindruck einer Grund-Lauine in der Nähe. -- Ihr Material ist fetter, dichter, schwerer als das luftiger Staub-Lauinen; darum keilt es sich auch mit eiserner Zähig¬ keit, dort wo es hineinfällt, fest. Personen und Thiere von einer Schlag-Lauine verschüttet, sind meist unrettbar verloren; sie bricht ihnen das Genick und Rückgrath, oder legt sich hermetisch dicht um den
Die Lauine.
unermeßlichen Schneewolken ausweiten, in deren Umhüllung cy¬ klopiſche Felſenquadern, wuchtige Eismarren und zerriſſene Raſen¬ fetzen ihren Schmetterflug pfeifend und heulend zurücklegen. Was dem freien Auge wie harmlos herabſchwebende Schaummaſſe er¬ ſchien, wird in der Nähe zur tobend-jagenden Furie; denn es fehlt uns, wie überall in den Alpen, ſo auch hier für die Entfernung, jeglicher Maßſtab, nach welchem die Höhen zu beurtheilen ſind, an deren unterbrochen-vertikaler Fläche die Lauine herabſtürzt. Würde man die ungefähre Höhe jener Stelle, wo die Lauine ſich begrub, in Zahlen von der Höhe des Punktes, an dem ſie ſich ablöſte, ſubtrahiren und die gewonnene Differenz mit der Summe der Sekunden (ſo lange das Naturſpiel währte) dividiren, ſo würde man einen Geſchwindigkeits-Quotienten für die enorme Fall-Eile er¬ halten, der zugleich den donnernden Gang aufklärte.
Eine Frühjahrs-Grund-Lauine in möglichſter Nähe geſehen iſt Entſetzen-erregend, faſt unbeſchreiblich. Alle Worte und Bezeich¬ nungen ſind unzureichend, um dieſes Chaos, dieſe völlige Auf¬ löſung, dieſe gemeinſchaftliche, augenblicklich zugleich ſich entwickelnde Orkan-, Erdbeben-, Bergſturz- und Gewitter-Erſcheinung zu ſchildern. Aufruhr, Flucht, Zerſtörung, Vernichtung, begleitet von raſendem in einander verwobenem Knirſchen des ſich ſelbſt zerpreſſenden Schnees, dem ſtöhnenden Krachen zerſplitternder Bäume, dem ziſchenden Fliegen geſchleuderter Felsgeſteine und deren krachendem Anprall an die Gebirgswände, ſchrillem Gepraſſel, — genug unde¬ finirbarem, ohrenbetäubendem Getümmel, deſſen Echo aus allen Thal-Ecken hundertfältig zurückgeſchleudert aufs Neue ſich in dieſes Wüthen vermengt, das iſt der Total-Eindruck einer Grund-Lauine in der Nähe. — Ihr Material iſt fetter, dichter, ſchwerer als das luftiger Staub-Lauinen; darum keilt es ſich auch mit eiſerner Zähig¬ keit, dort wo es hineinfällt, feſt. Perſonen und Thiere von einer Schlag-Lauine verſchüttet, ſind meiſt unrettbar verloren; ſie bricht ihnen das Genick und Rückgrath, oder legt ſich hermetiſch dicht um den
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[207/0237]
Die Lauine.
unermeßlichen Schneewolken ausweiten, in deren Umhüllung cy¬
klopiſche Felſenquadern, wuchtige Eismarren und zerriſſene Raſen¬
fetzen ihren Schmetterflug pfeifend und heulend zurücklegen. Was
dem freien Auge wie harmlos herabſchwebende Schaummaſſe er¬
ſchien, wird in der Nähe zur tobend-jagenden Furie; denn es fehlt
uns, wie überall in den Alpen, ſo auch hier für die Entfernung,
jeglicher Maßſtab, nach welchem die Höhen zu beurtheilen ſind, an
deren unterbrochen-vertikaler Fläche die Lauine herabſtürzt. Würde
man die ungefähre Höhe jener Stelle, wo die Lauine ſich begrub,
in Zahlen von der Höhe des Punktes, an dem ſie ſich ablöſte,
ſubtrahiren und die gewonnene Differenz mit der Summe der
Sekunden (ſo lange das Naturſpiel währte) dividiren, ſo würde
man einen Geſchwindigkeits-Quotienten für die enorme Fall-Eile er¬
halten, der zugleich den donnernden Gang aufklärte.
Eine Frühjahrs-Grund-Lauine in möglichſter Nähe geſehen iſt
Entſetzen-erregend, faſt unbeſchreiblich. Alle Worte und Bezeich¬
nungen ſind unzureichend, um dieſes Chaos, dieſe völlige Auf¬
löſung, dieſe gemeinſchaftliche, augenblicklich zugleich ſich entwickelnde
Orkan-, Erdbeben-, Bergſturz- und Gewitter-Erſcheinung zu ſchildern.
Aufruhr, Flucht, Zerſtörung, Vernichtung, begleitet von raſendem
in einander verwobenem Knirſchen des ſich ſelbſt zerpreſſenden
Schnees, dem ſtöhnenden Krachen zerſplitternder Bäume, dem
ziſchenden Fliegen geſchleuderter Felsgeſteine und deren krachendem
Anprall an die Gebirgswände, ſchrillem Gepraſſel, — genug unde¬
finirbarem, ohrenbetäubendem Getümmel, deſſen Echo aus allen
Thal-Ecken hundertfältig zurückgeſchleudert aufs Neue ſich in dieſes
Wüthen vermengt, das iſt der Total-Eindruck einer Grund-Lauine in
der Nähe. — Ihr Material iſt fetter, dichter, ſchwerer als das
luftiger Staub-Lauinen; darum keilt es ſich auch mit eiſerner Zähig¬
keit, dort wo es hineinfällt, feſt. Perſonen und Thiere von einer
Schlag-Lauine verſchüttet, ſind meiſt unrettbar verloren; ſie bricht
ihnen das Genick und Rückgrath, oder legt ſich hermetiſch dicht um den
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/237>, abgerufen am 17.06.2024.
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