schmelze und jederzeit nach heftigen Regengüssen zu erfolgen pfleg¬ ten und die Bewohner des Röthner Berges schon längst an solches Krachen und Fallen gewöhnt waren, so legten sie auch diesmal den Kundgebungen wenig Werth bei und vermutheten höchstens, daß in einer tieferliegenden, ohnedies ziemlich wüsten Gegend sich eine "Bräche" oder Erdschlipf ablösen möchte. Dieses Nieder¬ stürzen von Felsentrümmern unter fortwährend aufsteigenden Staub¬ nebeln vermehrte sich indessen von Stunde zu Stunde, die Luft zitterte in fortwährender Oscillation und die Anwohner des Ro߬ berges in weitem Umkreise empfanden jederzeit die Erschütterungen des Bodens. Leute, die mit Kartoffelhacken, Holzfällen oder Vieh¬ gaumen auf dem Felde oder den umliegenden Berghöhen beschäf¬ tigt waren, richteten, stets von Neuem aufgeschreckt, immer wieder den Blick nach dem Roßberge.
Am Spätnachmittage, es hatte auf dem Kirchthurme zu Arth 43/4 Uhr geschlagen, öffnete sich plötzlich auf halber Höhe des sanft geneigten Berges an der Rüthi-Weide eine große Erdspalte, welche zusehends weiter, tiefer, breiter und länger wurde. Der umliegende Rasenboden wendete sich selbst, so daß er, wie umgeackert, die braunschwarze Bodenkrume zu Tage kehrte. Zugleich begann der, in gleicher Höhe liegende Zanswald unheimlich lebendig zu werden, Zuerst schwankten die hohen, schlanken, ausgewachsenen Tannen, wie von unsichtbarer Hand bewegt, leicht hin und her, etwa so, als wenn im Sommer der Wind über das halbreife Korn hin¬ streicht, daß es zu wogen scheint. Diese wellenförmige Bewegung wuchs, aber in widerstreitenden Rhythmen, so daß in dem unregel¬ mäßigen und heftigen Schwanken die Stämme und ihre Baum¬ kronen durch- und gegeneinander schlugen. Mit krächzendem Ge¬ schrei flogen Raben, Krähen, Häher und andere dort nistende Waldvögel auf und eilten in flüchtenden Schwärmen gen Südwest den Forsten an den Abhängen des Rigi zu. Jetzt trug sich das schiebende Stoßen und Schwanken, das wellenhafte Steigen und
Der Goldauer Bergſturz.
ſchmelze und jederzeit nach heftigen Regengüſſen zu erfolgen pfleg¬ ten und die Bewohner des Röthner Berges ſchon längſt an ſolches Krachen und Fallen gewöhnt waren, ſo legten ſie auch diesmal den Kundgebungen wenig Werth bei und vermutheten höchſtens, daß in einer tieferliegenden, ohnedies ziemlich wüſten Gegend ſich eine „Bräche“ oder Erdſchlipf ablöſen möchte. Dieſes Nieder¬ ſtürzen von Felſentrümmern unter fortwährend aufſteigenden Staub¬ nebeln vermehrte ſich indeſſen von Stunde zu Stunde, die Luft zitterte in fortwährender Oscillation und die Anwohner des Ro߬ berges in weitem Umkreiſe empfanden jederzeit die Erſchütterungen des Bodens. Leute, die mit Kartoffelhacken, Holzfällen oder Vieh¬ gaumen auf dem Felde oder den umliegenden Berghöhen beſchäf¬ tigt waren, richteten, ſtets von Neuem aufgeſchreckt, immer wieder den Blick nach dem Roßberge.
Am Spätnachmittage, es hatte auf dem Kirchthurme zu Arth 4¾ Uhr geſchlagen, öffnete ſich plötzlich auf halber Höhe des ſanft geneigten Berges an der Rüthi-Weide eine große Erdſpalte, welche zuſehends weiter, tiefer, breiter und länger wurde. Der umliegende Raſenboden wendete ſich ſelbſt, ſo daß er, wie umgeackert, die braunſchwarze Bodenkrume zu Tage kehrte. Zugleich begann der, in gleicher Höhe liegende Zanswald unheimlich lebendig zu werden, Zuerſt ſchwankten die hohen, ſchlanken, ausgewachſenen Tannen, wie von unſichtbarer Hand bewegt, leicht hin und her, etwa ſo, als wenn im Sommer der Wind über das halbreife Korn hin¬ ſtreicht, daß es zu wogen ſcheint. Dieſe wellenförmige Bewegung wuchs, aber in widerſtreitenden Rhythmen, ſo daß in dem unregel¬ mäßigen und heftigen Schwanken die Stämme und ihre Baum¬ kronen durch- und gegeneinander ſchlugen. Mit krächzendem Ge¬ ſchrei flogen Raben, Krähen, Häher und andere dort niſtende Waldvögel auf und eilten in flüchtenden Schwärmen gen Südweſt den Forſten an den Abhängen des Rigi zu. Jetzt trug ſich das ſchiebende Stoßen und Schwanken, das wellenhafte Steigen und
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Der Goldauer Bergſturz.
ſchmelze und jederzeit nach heftigen Regengüſſen zu erfolgen pfleg¬
ten und die Bewohner des Röthner Berges ſchon längſt an ſolches
Krachen und Fallen gewöhnt waren, ſo legten ſie auch diesmal
den Kundgebungen wenig Werth bei und vermutheten höchſtens,
daß in einer tieferliegenden, ohnedies ziemlich wüſten Gegend ſich
eine „Bräche“ oder Erdſchlipf ablöſen möchte. Dieſes Nieder¬
ſtürzen von Felſentrümmern unter fortwährend aufſteigenden Staub¬
nebeln vermehrte ſich indeſſen von Stunde zu Stunde, die Luft
zitterte in fortwährender Oscillation und die Anwohner des Ro߬
berges in weitem Umkreiſe empfanden jederzeit die Erſchütterungen
des Bodens. Leute, die mit Kartoffelhacken, Holzfällen oder Vieh¬
gaumen auf dem Felde oder den umliegenden Berghöhen beſchäf¬
tigt waren, richteten, ſtets von Neuem aufgeſchreckt, immer wieder
den Blick nach dem Roßberge.
Am Spätnachmittage, es hatte auf dem Kirchthurme zu Arth
4¾ Uhr geſchlagen, öffnete ſich plötzlich auf halber Höhe des ſanft
geneigten Berges an der Rüthi-Weide eine große Erdſpalte, welche
zuſehends weiter, tiefer, breiter und länger wurde. Der umliegende
Raſenboden wendete ſich ſelbſt, ſo daß er, wie umgeackert, die
braunſchwarze Bodenkrume zu Tage kehrte. Zugleich begann der,
in gleicher Höhe liegende Zanswald unheimlich lebendig zu werden,
Zuerſt ſchwankten die hohen, ſchlanken, ausgewachſenen Tannen,
wie von unſichtbarer Hand bewegt, leicht hin und her, etwa ſo,
als wenn im Sommer der Wind über das halbreife Korn hin¬
ſtreicht, daß es zu wogen ſcheint. Dieſe wellenförmige Bewegung
wuchs, aber in widerſtreitenden Rhythmen, ſo daß in dem unregel¬
mäßigen und heftigen Schwanken die Stämme und ihre Baum¬
kronen durch- und gegeneinander ſchlugen. Mit krächzendem Ge¬
ſchrei flogen Raben, Krähen, Häher und andere dort niſtende
Waldvögel auf und eilten in flüchtenden Schwärmen gen Südweſt
den Forſten an den Abhängen des Rigi zu. Jetzt trug ſich das
ſchiebende Stoßen und Schwanken, das wellenhafte Steigen und
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/74>, abgerufen am 16.06.2024.
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