nicht dem Mächtigeren unterliegen, auf die eigene Faust und den Beistand seiner Genossen angewiesen. So standen die einzelnen Stände, Fürsten, Bündnisse und Corporationen ein- ander drohend gegenüber und der Fehden und Vergewaltigun- gen wurde kein Ende.
Es war aber überhaupt die Zeit des 15. und 16. Jahr- hunderts eine Uebergangsperiode von einer solchen Bedeutung, wie sie selten in der Weltgeschichte vorgekommen ist. Das Mittelalter hatte sich überlebt; der Geist des classischen Alter- thums war über das germanische Wesen gekommen, und rief die Cultur der modernen Welt hervor. Das Feudalwesen und die corporative Beschränkung entsprachen der politischen Auf- gabe der abendländischen Völker nicht mehr, welche in ihrer weiteren Entwicklung die Verwirklichung des höheren Staats- princips anstrebten. Im Rechte aber waren überhaupt tief eingreifende Reformen unabweisbar geworden, welche nur von der bewußten Kraft einer großartigen Gesetzgebung durchge- führt werden konnten. Nicht bloß das Fehdewesen und die Unsicherheit der Urtheilsvollstreckung war zu beseitigen; dem Kirchenrecht stand eine völlige Umänderung bevor; auch das Strafrecht verlangte eine neue Gestaltung; der Proceß, zum Theil mit unnöthigen Formalitäten überhäuft, war auf einfa- chere Grundsätze zurück zu bringen, und das ganze Beweis- verfahren mußte eine andere Grundlage erhalten, da Gottes- urtheile und Eideshelfer der juristischen Ueberzeugung nicht mehr genügten. Sollte es aber überhaupt zu einem einheitli- chen Staatswesen in Deutschland kommen, so mußte auch das Privatrecht in seiner regellosen Mannichfaltigkeit beschränkt und auf einfachere Formen zurückgeführt werden. Denn man konnte sich dann nicht mehr damit begnügen, daß in den klei-
Hiſtoriſche Einleitung.
nicht dem Maͤchtigeren unterliegen, auf die eigene Fauſt und den Beiſtand ſeiner Genoſſen angewieſen. So ſtanden die einzelnen Staͤnde, Fuͤrſten, Buͤndniſſe und Corporationen ein- ander drohend gegenuͤber und der Fehden und Vergewaltigun- gen wurde kein Ende.
Es war aber uͤberhaupt die Zeit des 15. und 16. Jahr- hunderts eine Uebergangsperiode von einer ſolchen Bedeutung, wie ſie ſelten in der Weltgeſchichte vorgekommen iſt. Das Mittelalter hatte ſich uͤberlebt; der Geiſt des claſſiſchen Alter- thums war uͤber das germaniſche Weſen gekommen, und rief die Cultur der modernen Welt hervor. Das Feudalweſen und die corporative Beſchraͤnkung entſprachen der politiſchen Auf- gabe der abendlaͤndiſchen Voͤlker nicht mehr, welche in ihrer weiteren Entwicklung die Verwirklichung des hoͤheren Staats- princips anſtrebten. Im Rechte aber waren uͤberhaupt tief eingreifende Reformen unabweisbar geworden, welche nur von der bewußten Kraft einer großartigen Geſetzgebung durchge- fuͤhrt werden konnten. Nicht bloß das Fehdeweſen und die Unſicherheit der Urtheilsvollſtreckung war zu beſeitigen; dem Kirchenrecht ſtand eine voͤllige Umaͤnderung bevor; auch das Strafrecht verlangte eine neue Geſtaltung; der Proceß, zum Theil mit unnoͤthigen Formalitaͤten uͤberhaͤuft, war auf einfa- chere Grundſaͤtze zuruͤck zu bringen, und das ganze Beweis- verfahren mußte eine andere Grundlage erhalten, da Gottes- urtheile und Eideshelfer der juriſtiſchen Ueberzeugung nicht mehr genuͤgten. Sollte es aber uͤberhaupt zu einem einheitli- chen Staatsweſen in Deutſchland kommen, ſo mußte auch das Privatrecht in ſeiner regelloſen Mannichfaltigkeit beſchraͤnkt und auf einfachere Formen zuruͤckgefuͤhrt werden. Denn man konnte ſich dann nicht mehr damit begnuͤgen, daß in den klei-
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Hiſtoriſche Einleitung.
nicht dem Maͤchtigeren unterliegen, auf die eigene Fauſt und
den Beiſtand ſeiner Genoſſen angewieſen. So ſtanden die
einzelnen Staͤnde, Fuͤrſten, Buͤndniſſe und Corporationen ein-
ander drohend gegenuͤber und der Fehden und Vergewaltigun-
gen wurde kein Ende.
Es war aber uͤberhaupt die Zeit des 15. und 16. Jahr-
hunderts eine Uebergangsperiode von einer ſolchen Bedeutung,
wie ſie ſelten in der Weltgeſchichte vorgekommen iſt. Das
Mittelalter hatte ſich uͤberlebt; der Geiſt des claſſiſchen Alter-
thums war uͤber das germaniſche Weſen gekommen, und rief
die Cultur der modernen Welt hervor. Das Feudalweſen und
die corporative Beſchraͤnkung entſprachen der politiſchen Auf-
gabe der abendlaͤndiſchen Voͤlker nicht mehr, welche in ihrer
weiteren Entwicklung die Verwirklichung des hoͤheren Staats-
princips anſtrebten. Im Rechte aber waren uͤberhaupt tief
eingreifende Reformen unabweisbar geworden, welche nur von
der bewußten Kraft einer großartigen Geſetzgebung durchge-
fuͤhrt werden konnten. Nicht bloß das Fehdeweſen und die
Unſicherheit der Urtheilsvollſtreckung war zu beſeitigen; dem
Kirchenrecht ſtand eine voͤllige Umaͤnderung bevor; auch das
Strafrecht verlangte eine neue Geſtaltung; der Proceß, zum
Theil mit unnoͤthigen Formalitaͤten uͤberhaͤuft, war auf einfa-
chere Grundſaͤtze zuruͤck zu bringen, und das ganze Beweis-
verfahren mußte eine andere Grundlage erhalten, da Gottes-
urtheile und Eideshelfer der juriſtiſchen Ueberzeugung nicht
mehr genuͤgten. Sollte es aber uͤberhaupt zu einem einheitli-
chen Staatsweſen in Deutſchland kommen, ſo mußte auch das
Privatrecht in ſeiner regelloſen Mannichfaltigkeit beſchraͤnkt und
auf einfachere Formen zuruͤckgefuͤhrt werden. Denn man
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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/39>, abgerufen am 27.07.2024.
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