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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.

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Und nun gab's ein Jubeln, rasch entschlossen p3b_026.002
Kletterten an mir empor die Buben, p3b_026.003
Mich zu küssen, und die Mädchen bogen p3b_026.004
Mir das Haupt herab, und selbst das Kleinste, p3b_026.005
Das sich erst gescheut vor meinem Barte, p3b_026.006
Tastete nach mir mit seinen Händchen.
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O wie ward mir's wohl, so ganz umschlungen, p3b_026.008
Ganz umrankt vom jungen frischen Leben, p3b_026.009
Das wie eine Bienentraub' am Stocke p3b_026.010
Um mich hing, und tausend Wunder fragte! p3b_026.011
Aber leise ging ein Hauch der Wehmut p3b_026.012
Durch das Herz mir doch, denn diese Küsse, p3b_026.013
Diese Fragen, die mich rings bestürmten, p3b_026.014
Mahnten sie zugleich nicht: So viel Schritte p3b_026.015
Sie gethan ins Leben, so viel Schritte p3b_026.016
Hast auch du gethan dem Tod entgegen, p3b_026.017
Und schon reift in ihnen täglich rascher p3b_026.018
Das Geschlecht, das über deinem Grabe p3b_026.019
Wandeln soll und selig sein und weinen. p3b_026.020
Und wie segnend legt' ich meine Hände p3b_026.021
Auf ihr Haupt und dachte still die Worte: p3b_026.022
Seid gegrüßt, ihr holden Todesboten p3b_026.023
Seid gegrüßt, ich dank' euch, daß so lieblich p3b_026.024
Jhr den ernsten Gruß an mich bestellt habt. p3b_026.025
Aber ihr - zu vollem Leben freudig p3b_026.026
Wachset auf, daß, wenn ich einst dahin bin, p3b_026.027
Jhr vollenden mögt mit euern Brüdern, p3b_026.028
Was ich selbst und mein Geschlecht nicht konnte.

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III. Übungen im anapästischen Rhythmus.
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§ 10. Bildung anapästischer Verstakte.

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1. Der jambische Rhythmus verträgt recht wohl anapästische (BreveBreve-) p3b_026.032
Verstakte. Durch dieselben erhält der jambische Vers noch größere p3b_026.033
Beweglichkeit und Beschleunigung, als ihm von Natur schon eigen ist.

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2. Werden alle jambischen Verstakte eines Gedichtes, oder auch p3b_026.035
nur die Mehrzahl derselben, in Anapäste verwandelt, so entstehen p3b_026.036
anapästische Verse. Bei Vorwiegen der jambischen Verse spricht man

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Kletterten an mir empor die Buben, p3b_026.003
Mich zu küssen, und die Mädchen bogen p3b_026.004
Mir das Haupt herab, und selbst das Kleinste, p3b_026.005
Das sich erst gescheut vor meinem Barte, p3b_026.006
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O wie ward mir's wohl, so ganz umschlungen, p3b_026.008
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Wachset auf, daß, wenn ich einst dahin bin, p3b_026.027
Jhr vollenden mögt mit euern Brüdern, p3b_026.028
Was ich selbst und mein Geschlecht nicht konnte.

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§ 10. Bildung anapästischer Verstakte.

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1. Der jambische Rhythmus verträgt recht wohl anapästische (⏑⏑–) p3b_026.032
Verstakte. Durch dieselben erhält der jambische Vers noch größere p3b_026.033
Beweglichkeit und Beschleunigung, als ihm von Natur schon eigen ist.

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/52>, abgerufen am 07.05.2024.