Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Ursache der Mißerfolge Preußens.
vor. Die Neigung, diese Möglichkeit auszunutzen, muß im Gemüthe
des Königs zurückgetreten sein vor der Besorgniß, dasjenige Maß
von Wohlwollen in nationaler und liberaler Richtung zu verlieren,
auf dem die Hoffnung beruhte, daß Preußen ohne Krieg und in
einer mit legitimistischen Vorstellungen verträglichen Weise das Vor¬
gewicht in Deutschland zufallen würde.

Diese Hoffnung oder Erwartung, die bis in die "Neue Aera"
hinein in Phrasen von dem deutschen Berufe Preußens und von
moralischen Eroberungen einen schüchternen Ausdruck fand, beruhte
auf dem doppelten Irrthum, der vom März 1848 bis zum Früh¬
jahr des folgenden Jahres in Sanssouci wie in der Paulskirche
bestimmend war: einer Unterschätzung der Lebenskraft der deutschen
Dynastien und ihrer Staaten, und einer Ueberschätzung der Kräfte,
die man unter dem Wort Barrikade zusammenfassen kann, so daß
darunter alle die Barrikade vorbereitenden Momente, Agitation
und Drohung mit dem Straßenkampfe, begriffen sind. Nicht in
diesem selbst lag die Gefahr des Umsturzes, sondern in der Furcht
davor. Die mehr oder weniger phäakischen Regirungen waren im
März, ehe sie den Degen gezogen hatten, geschlagen, theils durch
die Furcht vor dem Feinde, theils durch die innere Sympathie
ihrer Beamten mit demselben. Immerhin wäre es für den König
von Preußen an der Spitze der Fürsten leichter gewesen, durch Aus¬
nutzung des Sieges der Truppen in Berlin ein deutsches Einheits¬
gebilde herzustellen, als es nachher der Paulskirche geworden ist; ob
die Eigenthümlichkeit des Königs nicht eine solche Herstellung auch
bei Festhalten dieses Sieges gehindert oder das hergestellte, wie
Bodelschwingh im März fürchtete, wieder unsicher gemacht haben
würde, ist allerdings schwer zu beurtheilen. In den Stimmungen
seiner letzten Lebensjahre, wie sie auch aus den Aufzeichnungen
Leopolds v. Gerlach und aus andern Quellen ersichtlich sind, steht
die ursprüngliche Abneigung gegen constitutionelle Einrichtungen, die
Ueberzeugung von der Nothwendigkeit eines größern Maßes freier
Bewegung der Königlichen Gewalt, als das in der preußischen Ver¬

Urſache der Mißerfolge Preußens.
vor. Die Neigung, dieſe Möglichkeit auszunutzen, muß im Gemüthe
des Königs zurückgetreten ſein vor der Beſorgniß, dasjenige Maß
von Wohlwollen in nationaler und liberaler Richtung zu verlieren,
auf dem die Hoffnung beruhte, daß Preußen ohne Krieg und in
einer mit legitimiſtiſchen Vorſtellungen verträglichen Weiſe das Vor¬
gewicht in Deutſchland zufallen würde.

Dieſe Hoffnung oder Erwartung, die bis in die „Neue Aera“
hinein in Phraſen von dem deutſchen Berufe Preußens und von
moraliſchen Eroberungen einen ſchüchternen Ausdruck fand, beruhte
auf dem doppelten Irrthum, der vom März 1848 bis zum Früh¬
jahr des folgenden Jahres in Sansſouci wie in der Paulskirche
beſtimmend war: einer Unterſchätzung der Lebenskraft der deutſchen
Dynaſtien und ihrer Staaten, und einer Ueberſchätzung der Kräfte,
die man unter dem Wort Barrikade zuſammenfaſſen kann, ſo daß
darunter alle die Barrikade vorbereitenden Momente, Agitation
und Drohung mit dem Straßenkampfe, begriffen ſind. Nicht in
dieſem ſelbſt lag die Gefahr des Umſturzes, ſondern in der Furcht
davor. Die mehr oder weniger phäakiſchen Regirungen waren im
März, ehe ſie den Degen gezogen hatten, geſchlagen, theils durch
die Furcht vor dem Feinde, theils durch die innere Sympathie
ihrer Beamten mit demſelben. Immerhin wäre es für den König
von Preußen an der Spitze der Fürſten leichter geweſen, durch Aus¬
nutzung des Sieges der Truppen in Berlin ein deutſches Einheits¬
gebilde herzuſtellen, als es nachher der Paulskirche geworden iſt; ob
die Eigenthümlichkeit des Königs nicht eine ſolche Herſtellung auch
bei Feſthalten dieſes Sieges gehindert oder das hergeſtellte, wie
Bodelſchwingh im März fürchtete, wieder unſicher gemacht haben
würde, iſt allerdings ſchwer zu beurtheilen. In den Stimmungen
ſeiner letzten Lebensjahre, wie ſie auch aus den Aufzeichnungen
Leopolds v. Gerlach und aus andern Quellen erſichtlich ſind, ſteht
die urſprüngliche Abneigung gegen conſtitutionelle Einrichtungen, die
Ueberzeugung von der Nothwendigkeit eines größern Maßes freier
Bewegung der Königlichen Gewalt, als das in der preußiſchen Ver¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0082" n="55"/><fw place="top" type="header">Ur&#x017F;ache der Mißerfolge Preußens.<lb/></fw> vor. Die Neigung, die&#x017F;e Möglichkeit auszunutzen, muß im Gemüthe<lb/>
des Königs zurückgetreten &#x017F;ein vor der Be&#x017F;orgniß, dasjenige Maß<lb/>
von Wohlwollen in nationaler und liberaler Richtung zu verlieren,<lb/>
auf dem die Hoffnung beruhte, daß Preußen ohne Krieg und in<lb/>
einer mit legitimi&#x017F;ti&#x017F;chen Vor&#x017F;tellungen verträglichen Wei&#x017F;e das Vor¬<lb/>
gewicht in Deut&#x017F;chland zufallen würde.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e Hoffnung oder Erwartung, die bis in die &#x201E;Neue Aera&#x201C;<lb/>
hinein in Phra&#x017F;en von dem deut&#x017F;chen Berufe Preußens und von<lb/>
morali&#x017F;chen Eroberungen einen &#x017F;chüchternen Ausdruck fand, beruhte<lb/>
auf dem doppelten Irrthum, der vom März 1848 bis zum Früh¬<lb/>
jahr des folgenden Jahres in Sans&#x017F;ouci wie in der Paulskirche<lb/>
be&#x017F;timmend war: einer Unter&#x017F;chätzung der Lebenskraft der deut&#x017F;chen<lb/>
Dyna&#x017F;tien und ihrer Staaten, und einer Ueber&#x017F;chätzung der Kräfte,<lb/>
die man unter dem Wort Barrikade zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;en kann, &#x017F;o daß<lb/>
darunter alle die Barrikade vorbereitenden Momente, Agitation<lb/>
und <hi rendition="#g">Drohung</hi> mit dem Straßenkampfe, begriffen &#x017F;ind. Nicht in<lb/>
die&#x017F;em &#x017F;elb&#x017F;t lag die Gefahr des Um&#x017F;turzes, &#x017F;ondern in der Furcht<lb/>
davor. Die mehr oder weniger phäaki&#x017F;chen Regirungen waren im<lb/>
März, ehe &#x017F;ie den Degen gezogen hatten, ge&#x017F;chlagen, theils durch<lb/>
die <hi rendition="#g">Furcht</hi> vor dem Feinde, theils durch die innere Sympathie<lb/>
ihrer Beamten mit dem&#x017F;elben. Immerhin wäre es für den König<lb/>
von Preußen an der Spitze der Für&#x017F;ten leichter gewe&#x017F;en, durch Aus¬<lb/>
nutzung des Sieges der Truppen in Berlin ein deut&#x017F;ches Einheits¬<lb/>
gebilde herzu&#x017F;tellen, als es nachher der Paulskirche geworden i&#x017F;t; ob<lb/>
die Eigenthümlichkeit des Königs nicht eine &#x017F;olche Her&#x017F;tellung auch<lb/>
bei Fe&#x017F;thalten die&#x017F;es Sieges gehindert oder das herge&#x017F;tellte, wie<lb/>
Bodel&#x017F;chwingh im März fürchtete, wieder un&#x017F;icher gemacht haben<lb/>
würde, i&#x017F;t allerdings &#x017F;chwer zu beurtheilen. In den Stimmungen<lb/>
&#x017F;einer letzten Lebensjahre, wie &#x017F;ie auch aus den Aufzeichnungen<lb/>
Leopolds v. Gerlach und aus andern Quellen er&#x017F;ichtlich &#x017F;ind, &#x017F;teht<lb/>
die ur&#x017F;prüngliche Abneigung gegen con&#x017F;titutionelle Einrichtungen, die<lb/>
Ueberzeugung von der Nothwendigkeit eines größern Maßes freier<lb/>
Bewegung der Königlichen Gewalt, als das in der preußi&#x017F;chen Ver¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0082] Urſache der Mißerfolge Preußens. vor. Die Neigung, dieſe Möglichkeit auszunutzen, muß im Gemüthe des Königs zurückgetreten ſein vor der Beſorgniß, dasjenige Maß von Wohlwollen in nationaler und liberaler Richtung zu verlieren, auf dem die Hoffnung beruhte, daß Preußen ohne Krieg und in einer mit legitimiſtiſchen Vorſtellungen verträglichen Weiſe das Vor¬ gewicht in Deutſchland zufallen würde. Dieſe Hoffnung oder Erwartung, die bis in die „Neue Aera“ hinein in Phraſen von dem deutſchen Berufe Preußens und von moraliſchen Eroberungen einen ſchüchternen Ausdruck fand, beruhte auf dem doppelten Irrthum, der vom März 1848 bis zum Früh¬ jahr des folgenden Jahres in Sansſouci wie in der Paulskirche beſtimmend war: einer Unterſchätzung der Lebenskraft der deutſchen Dynaſtien und ihrer Staaten, und einer Ueberſchätzung der Kräfte, die man unter dem Wort Barrikade zuſammenfaſſen kann, ſo daß darunter alle die Barrikade vorbereitenden Momente, Agitation und Drohung mit dem Straßenkampfe, begriffen ſind. Nicht in dieſem ſelbſt lag die Gefahr des Umſturzes, ſondern in der Furcht davor. Die mehr oder weniger phäakiſchen Regirungen waren im März, ehe ſie den Degen gezogen hatten, geſchlagen, theils durch die Furcht vor dem Feinde, theils durch die innere Sympathie ihrer Beamten mit demſelben. Immerhin wäre es für den König von Preußen an der Spitze der Fürſten leichter geweſen, durch Aus¬ nutzung des Sieges der Truppen in Berlin ein deutſches Einheits¬ gebilde herzuſtellen, als es nachher der Paulskirche geworden iſt; ob die Eigenthümlichkeit des Königs nicht eine ſolche Herſtellung auch bei Feſthalten dieſes Sieges gehindert oder das hergeſtellte, wie Bodelſchwingh im März fürchtete, wieder unſicher gemacht haben würde, iſt allerdings ſchwer zu beurtheilen. In den Stimmungen ſeiner letzten Lebensjahre, wie ſie auch aus den Aufzeichnungen Leopolds v. Gerlach und aus andern Quellen erſichtlich ſind, ſteht die urſprüngliche Abneigung gegen conſtitutionelle Einrichtungen, die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit eines größern Maßes freier Bewegung der Königlichen Gewalt, als das in der preußiſchen Ver¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/82
Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/82>, abgerufen am 06.05.2024.