Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Blumenbach, Johann Friedrich: Handbuch der Naturgeschichte. 9. Aufl. Wien, 1816.

Bild:
<< vorherige Seite

auch den ganz jungen und selbst den stummgebornen
Kindern zukommt. Und so folgt aus je en beyden aus-
schließlichen Vorzügen das große ausschließliche Eigen-
thum der Menschenspecies, wodurch sie über die ganze
übrige thierische Schöpfung erhoben wird, das Ler-
mögen sich selbst zu vervollkommnen
.



Der Mensch ist für sich ein wehrloses, hülfsbe-
dürftiges
Geschöpf. Kein anderes Thier außer ihm
bleibt so lange Kind, keins kriegt so sehr spät erst sein
Gebiß, lernt so sehr spät erst auf seinen Füßen stehen,
keins wird so sehr spät mannbar u. s. w. Selbst seine
großen Vorzüge, Vernunft und Sprache, sind nur
Keime, die sich nicht von selbst, sondern erst durch frem-
de Hülfe, Cultur und Erziehung entwickeln können;
daher denn bey dieser Hülfsbedürftigkeit und bey die-
sen zahllosen dringenden Bedürfnissen die allgemeine
natürliche Bestimmung des Menschen zur gesellschaft-
lichen Verbindung
. Nicht ganz so allgemein läßt
sich hingegen vor der Hand noch entscheiden, ob in al-
len Welttheilen die Proportion in der Anzahl der ge-
bornen Knäbchen und Mädchen, und die Dauer der
Zeit der Fortpflanzungsfähigkeit der beyden Geschlech-
ter so gleich sey, daß der Mensch überall so wie in
Europa
zur Monogamie bestimmt werde.

Sein Aufenthalt und seine Nahrung sind bey-
de unbeschränkt; er bewohnt die ganze bewohnbare Er-
de, und nährt sich mit den vielartigsten Stoffen aus
dem weitesten Umfang der organisirten Schöpfung.
Und in Verhaltniß zu seiner mäßigen körperlichen Grö-
ße, und in Vergleich mit andern Säugethieren erreicht
er ein ausnehmend hohes Alter.



Es gibt nur Eine Gattung (species) im Men-
schengeschlecht; und alle uns bekannte Völker aller
Zeiten und aller Himmelsstriche können von einer ge-
meinschaftlichen Stammrace abstammen*). Alle Na-
tional-Verschiedenheiten in Bildung und Farbe des
menschlichen Körpers sind um nichts auffallender oder
unvegreiflicher als die, worin so viele andere Gattun-
gen von organisirten Körpern, zumahl unter den Haus-

*) Ich habe dieß in der 3ten Ausgabe der Schrift: de generi
humani varietate nativa
weiter ausgeführt.

auch den ganz jungen und selbst den stummgebornen
Kindern zukommt. Und so folgt aus je en beyden aus-
schließlichen Vorzügen das große ausschließliche Eigen-
thum der Menschenspecies, wodurch sie über die ganze
übrige thierische Schöpfung erhoben wird, das Ler-
mögen sich selbst zu vervollkommnen
.



Der Mensch ist für sich ein wehrloses, hülfsbe-
dürftiges
Geschöpf. Kein anderes Thier außer ihm
bleibt so lange Kind, keins kriegt so sehr spät erst sein
Gebiß, lernt so sehr spät erst auf seinen Füßen stehen,
keins wird so sehr spät mannbar u. s. w. Selbst seine
großen Vorzüge, Vernunft und Sprache, sind nur
Keime, die sich nicht von selbst, sondern erst durch frem-
de Hülfe, Cultur und Erziehung entwickeln können;
daher denn bey dieser Hülfsbedürftigkeit und bey die-
sen zahllosen dringenden Bedürfnissen die allgemeine
natürliche Bestimmung des Menschen zur gesellschaft-
lichen Verbindung
. Nicht ganz so allgemein läßt
sich hingegen vor der Hand noch entscheiden, ob in al-
len Welttheilen die Proportion in der Anzahl der ge-
bornen Knäbchen und Mädchen, und die Dauer der
Zeit der Fortpflanzungsfähigkeit der beyden Geschlech-
ter so gleich sey, daß der Mensch überall so wie in
Europa
zur Monogamie bestimmt werde.

Sein Aufenthalt und seine Nahrung sind bey-
de unbeschränkt; er bewohnt die ganze bewohnbare Er-
de, und nährt sich mit den vielartigsten Stoffen aus
dem weitesten Umfang der organisirten Schöpfung.
Und in Verhaltniß zu seiner mäßigen körperlichen Grö-
ße, und in Vergleich mit andern Säugethieren erreicht
er ein ausnehmend hohes Alter.



Es gibt nur Eine Gattung (species) im Men-
schengeschlecht; und alle uns bekannte Völker aller
Zeiten und aller Himmelsstriche können von einer ge-
meinschaftlichen Stammrace abstammen*). Alle Na-
tional-Verschiedenheiten in Bildung und Farbe des
menschlichen Körpers sind um nichts auffallender oder
unvegreiflicher als die, worin so viele andere Gattun-
gen von organisirten Körpern, zumahl unter den Haus-

*) Ich habe dieß in der 3ten Ausgabe der Schrift: de generi
humani varietate nativa
weiter ausgeführt.
<TEI xml:lang="de-DE">
  <text xml:id="blume_hbnatur_000041">
    <group>
      <text xml:id="blume_hbnatur_000041_1" n="1">
        <body>
          <div n="1">
            <div n="2">
              <div n="3">
                <p rendition="#l1em"><pb facs="#f0075" xml:id="pb056_01_0001" n="56"/>
auch den ganz jungen und selbst den stummgebornen<lb/>
Kindern zukommt. Und so folgt aus je en beyden aus-<lb/>
schließlichen Vorzügen das große ausschließliche Eigen-<lb/>
thum der Menschenspecies, wodurch sie über die ganze<lb/>
übrige thierische Schöpfung erhoben wird, <hi rendition="#g">das Ler-<lb/>
mögen sich selbst zu vervollkommnen</hi>.</p>
                <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
                <p rendition="#l1em">Der Mensch ist für sich ein wehrloses, <hi rendition="#g">hülfsbe-<lb/>
dürftiges</hi> Geschöpf. Kein anderes Thier außer ihm<lb/>
bleibt so lange Kind, keins kriegt so sehr spät erst sein<lb/>
Gebiß, lernt so sehr spät erst auf seinen Füßen stehen,<lb/>
keins wird so sehr spät mannbar u. s. w. Selbst seine<lb/>
großen Vorzüge, Vernunft und Sprache, sind nur<lb/>
Keime, die sich nicht von selbst, sondern erst durch frem-<lb/>
de Hülfe, Cultur und Erziehung entwickeln können;<lb/>
daher denn bey dieser Hülfsbedürftigkeit und bey die-<lb/>
sen zahllosen dringenden Bedürfnissen die allgemeine<lb/>
natürliche Bestimmung des Menschen zur <hi rendition="#g">gesellschaft-<lb/>
lichen Verbindung</hi>. Nicht ganz so allgemein läßt<lb/>
sich hingegen vor der Hand noch entscheiden, ob in al-<lb/>
len Welttheilen die Proportion in der Anzahl der ge-<lb/>
bornen Knäbchen und Mädchen, und die Dauer der<lb/>
Zeit der Fortpflanzungsfähigkeit der beyden Geschlech-<lb/>
ter so gleich sey, daß der Mensch überall so <hi rendition="#g">wie in<lb/>
Europa</hi> zur <hi rendition="#g">Monogamie</hi> bestimmt werde.</p>
                <p rendition="#l1em">Sein <hi rendition="#g">Aufenthalt</hi> und seine <hi rendition="#g">Nahrung</hi> sind bey-<lb/>
de unbeschränkt; er bewohnt die ganze bewohnbare Er-<lb/>
de, und nährt sich mit den vielartigsten Stoffen aus<lb/>
dem weitesten Umfang der organisirten Schöpfung.<lb/>
Und in Verhaltniß zu seiner mäßigen körperlichen Grö-<lb/>
ße, und in Vergleich mit andern Säugethieren erreicht<lb/>
er ein ausnehmend hohes <hi rendition="#g">Alter</hi>.</p>
                <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
                <p rendition="#l1em">Es gibt nur <hi rendition="#g">Eine Gattung</hi> (<hi rendition="#aq">species</hi>) im Men-<lb/>
schengeschlecht; und alle uns bekannte Völker aller<lb/>
Zeiten und aller Himmelsstriche können von einer ge-<lb/>
meinschaftlichen Stammrace abstammen<note anchored="true" place="foot" n="*)"><p>Ich habe dieß in der 3ten Ausgabe der Schrift: <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">de generi<lb/>
humani varietate nativa</hi></hi> weiter ausgeführt.</p></note>. Alle Na-<lb/>
tional-Verschiedenheiten in Bildung und Farbe des<lb/>
menschlichen Körpers sind um nichts auffallender oder<lb/>
unvegreiflicher als die, worin so viele andere Gattun-<lb/>
gen von organisirten Körpern, zumahl unter den Haus-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </body>
      </text>
    </group>
  </text>
</TEI>
[56/0075] auch den ganz jungen und selbst den stummgebornen Kindern zukommt. Und so folgt aus je en beyden aus- schließlichen Vorzügen das große ausschließliche Eigen- thum der Menschenspecies, wodurch sie über die ganze übrige thierische Schöpfung erhoben wird, das Ler- mögen sich selbst zu vervollkommnen. Der Mensch ist für sich ein wehrloses, hülfsbe- dürftiges Geschöpf. Kein anderes Thier außer ihm bleibt so lange Kind, keins kriegt so sehr spät erst sein Gebiß, lernt so sehr spät erst auf seinen Füßen stehen, keins wird so sehr spät mannbar u. s. w. Selbst seine großen Vorzüge, Vernunft und Sprache, sind nur Keime, die sich nicht von selbst, sondern erst durch frem- de Hülfe, Cultur und Erziehung entwickeln können; daher denn bey dieser Hülfsbedürftigkeit und bey die- sen zahllosen dringenden Bedürfnissen die allgemeine natürliche Bestimmung des Menschen zur gesellschaft- lichen Verbindung. Nicht ganz so allgemein läßt sich hingegen vor der Hand noch entscheiden, ob in al- len Welttheilen die Proportion in der Anzahl der ge- bornen Knäbchen und Mädchen, und die Dauer der Zeit der Fortpflanzungsfähigkeit der beyden Geschlech- ter so gleich sey, daß der Mensch überall so wie in Europa zur Monogamie bestimmt werde. Sein Aufenthalt und seine Nahrung sind bey- de unbeschränkt; er bewohnt die ganze bewohnbare Er- de, und nährt sich mit den vielartigsten Stoffen aus dem weitesten Umfang der organisirten Schöpfung. Und in Verhaltniß zu seiner mäßigen körperlichen Grö- ße, und in Vergleich mit andern Säugethieren erreicht er ein ausnehmend hohes Alter. Es gibt nur Eine Gattung (species) im Men- schengeschlecht; und alle uns bekannte Völker aller Zeiten und aller Himmelsstriche können von einer ge- meinschaftlichen Stammrace abstammen *). Alle Na- tional-Verschiedenheiten in Bildung und Farbe des menschlichen Körpers sind um nichts auffallender oder unvegreiflicher als die, worin so viele andere Gattun- gen von organisirten Körpern, zumahl unter den Haus- *) Ich habe dieß in der 3ten Ausgabe der Schrift: de generi humani varietate nativa weiter ausgeführt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Editura GmbH & Co.KG, Berlin: Volltexterstellung und Basis-TEI-Auszeichung
Johann Friedrich Blumenbach – online: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-08-26T09:00:15Z)
Frank Wiegand: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2013-08-26T09:00:15Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Nicht erfasst: Bogensignaturen und Kustoden, Kolumnentitel.
  • Auf Titelblättern wurde auf die Auszeichnung der Schriftgrößenunterschiede zugunsten der Identifizierung von <titlePart>s verzichtet.
  • Keine Auszeichnung der Initialbuchstaben am Kapitelanfang.
  • Langes ſ: als s transkribiert.
  • Hochgestellte e über Vokalen: in moderner Schreibweise erfasst.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_naturgeschichte_1816
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_naturgeschichte_1816/75
Zitationshilfe: Blumenbach, Johann Friedrich: Handbuch der Naturgeschichte. 9. Aufl. Wien, 1816, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_naturgeschichte_1816/75>, abgerufen am 04.05.2024.