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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
wie wir sie nennen können, jemals wirklich vorgekommen
sei, mag immerhin bezweifelt werden. Jedenfalls entspricht
sie der Statsidee, welche gewissermaszen in ihr vollendet, wie
die Athene aus dem Haupte des Zeus, in das Leben über-
tritt, am vollkommensten.

2. Das Land ist vorher da, aber in dem Lande gelangt
später erst das Volk zu dem Bewusztsein einer statlichen
Zusammengehörigkeit. Hier liegt das statenbildende Moment
in der Volksorganisation. Auch dafür finden wir in der
alten Sage ein berühmtes Vorbild. Die Athener gelten als
Kinder des attischen Landes (Autochthonen), welches sie Jahr-
hunderte lang bebauten, bevor der Stat Athen gegründet
wurde. Mag man nun die Entstehung dieses States von Kekrops
herleiten, der zuerst unter den noch rohen Landeseingebor-
nen die Verehrung der Götter, ein gesittetes Familienrecht,
den Ackerbau und die Pflanzung des Oelbaums eingeführt,
das gesammte Volk in kastenartige Stämme geordnet und
Regierung und Gericht eingesetzt habe, oder mag man die-
selbe erst dem Könige Theseus zuschreiben, welcher die zer-
streuten Gemeinden des Landes zu einem einheitlichen Ge-
meinwesen verbunden und die Leitung desselben in Athen
concentrirt habe: 2 unter beiden Voraussetzungen liegt in der
Organisation des Volks, welchem das Land gehörte, die Ver-
wirklichung des States.

Eine historisch genau beobachtete 3 Anwendung dieser
Statenbildung durch Volksorganisation in einem bestimmten
Lande ist die Gründung der Republik Island im Jahr 930
n. Chr. Zuvor gab es nur vereinzelte Niederlassungen der
zahlreichen Häuptlinge (Goden) auf der Insel, unverbundene

2 Die Athener nannten diese Concentration der Gemeinden zum State
xunoikia. Vgl. darüber die lehrreiche Abhandlung von W. Vischer:
Ueber die Bildung von Staaten und Bünden im alten Griechenland.
Basel 1849.
3 Vgl. Maurer Beiträge zur Rechtsgesch. des germ. Norden. 1852.
Heft 1.

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
wie wir sie nennen können, jemals wirklich vorgekommen
sei, mag immerhin bezweifelt werden. Jedenfalls entspricht
sie der Statsidee, welche gewissermaszen in ihr vollendet, wie
die Athene aus dem Haupte des Zeus, in das Leben über-
tritt, am vollkommensten.

2. Das Land ist vorher da, aber in dem Lande gelangt
später erst das Volk zu dem Bewusztsein einer statlichen
Zusammengehörigkeit. Hier liegt das statenbildende Moment
in der Volksorganisation. Auch dafür finden wir in der
alten Sage ein berühmtes Vorbild. Die Athener gelten als
Kinder des attischen Landes (Autochthonen), welches sie Jahr-
hunderte lang bebauten, bevor der Stat Athen gegründet
wurde. Mag man nun die Entstehung dieses States von Kekrops
herleiten, der zuerst unter den noch rohen Landeseingebor-
nen die Verehrung der Götter, ein gesittetes Familienrecht,
den Ackerbau und die Pflanzung des Oelbaums eingeführt,
das gesammte Volk in kastenartige Stämme geordnet und
Regierung und Gericht eingesetzt habe, oder mag man die-
selbe erst dem Könige Theseus zuschreiben, welcher die zer-
streuten Gemeinden des Landes zu einem einheitlichen Ge-
meinwesen verbunden und die Leitung desselben in Athen
concentrirt habe: 2 unter beiden Voraussetzungen liegt in der
Organisation des Volks, welchem das Land gehörte, die Ver-
wirklichung des States.

Eine historisch genau beobachtete 3 Anwendung dieser
Statenbildung durch Volksorganisation in einem bestimmten
Lande ist die Gründung der Republik Island im Jahr 930
n. Chr. Zuvor gab es nur vereinzelte Niederlassungen der
zahlreichen Häuptlinge (Goden) auf der Insel, unverbundene

2 Die Athener nannten diese Concentration der Gemeinden zum State
ξυνοίϰια. Vgl. darüber die lehrreiche Abhandlung von W. Vischer:
Ueber die Bildung von Staaten und Bünden im alten Griechenland.
Basel 1849.
3 Vgl. Maurer Beiträge zur Rechtsgesch. des germ. Norden. 1852.
Heft 1.
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[302/0320] Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States. wie wir sie nennen können, jemals wirklich vorgekommen sei, mag immerhin bezweifelt werden. Jedenfalls entspricht sie der Statsidee, welche gewissermaszen in ihr vollendet, wie die Athene aus dem Haupte des Zeus, in das Leben über- tritt, am vollkommensten. 2. Das Land ist vorher da, aber in dem Lande gelangt später erst das Volk zu dem Bewusztsein einer statlichen Zusammengehörigkeit. Hier liegt das statenbildende Moment in der Volksorganisation. Auch dafür finden wir in der alten Sage ein berühmtes Vorbild. Die Athener gelten als Kinder des attischen Landes (Autochthonen), welches sie Jahr- hunderte lang bebauten, bevor der Stat Athen gegründet wurde. Mag man nun die Entstehung dieses States von Kekrops herleiten, der zuerst unter den noch rohen Landeseingebor- nen die Verehrung der Götter, ein gesittetes Familienrecht, den Ackerbau und die Pflanzung des Oelbaums eingeführt, das gesammte Volk in kastenartige Stämme geordnet und Regierung und Gericht eingesetzt habe, oder mag man die- selbe erst dem Könige Theseus zuschreiben, welcher die zer- streuten Gemeinden des Landes zu einem einheitlichen Ge- meinwesen verbunden und die Leitung desselben in Athen concentrirt habe: 2 unter beiden Voraussetzungen liegt in der Organisation des Volks, welchem das Land gehörte, die Ver- wirklichung des States. Eine historisch genau beobachtete 3 Anwendung dieser Statenbildung durch Volksorganisation in einem bestimmten Lande ist die Gründung der Republik Island im Jahr 930 n. Chr. Zuvor gab es nur vereinzelte Niederlassungen der zahlreichen Häuptlinge (Goden) auf der Insel, unverbundene 2 Die Athener nannten diese Concentration der Gemeinden zum State ξυνοίϰια. Vgl. darüber die lehrreiche Abhandlung von W. Vischer: Ueber die Bildung von Staaten und Bünden im alten Griechenland. Basel 1849. 3 Vgl. Maurer Beiträge zur Rechtsgesch. des germ. Norden. 1852. Heft 1.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/320>, abgerufen am 26.04.2024.