Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
Staten, sondern mehr um Ausbreitung der Herrschaft und
Cultur des europäischen Vaterlandes, oder um Erwerb einer
neuen ökonomischen Existenz, zuweilen auch um Sicherung
der Uebersiedler vor Verfolgung in ihrer Heimat. Im Süden
war die Abhängigkeit der Colonien von den romanischen Staten
Europas gröszer als im Norden, wo der germanische Corpo-
rationstrieb und das germanische Freiheitsgefühl wenigstens
einer relativen Selbständigkeit der Colonien günstig waren,
diese theilweise sogar hervorgerufen hatten.

Sieht man aber auf die spätere Entwicklung und Ge-
schichte dieser Colonien, so sind sie meistens zu einem selb-
ständigen Dasein erwachsen, und haben sich dann als neue
Staten losgemacht und abgesondert von jener europäischen
Herrschaft. Diese Colonisation ist daher eher der Geburt
eines Kindes zu vergleichen, welches die väterliche Familie
als ein abhängiges Glied derselben erweitert, dann aber, nach-
dem es zu körperlicher und geistiger Reife herangediehen, sich
absondert und eine neue eigene Familie begründet.

2. Eine fernere abgeleitete Statenbildung kam in dem
Mittelalter öfter vor in Gestalt der Verleihung von Ho-
heitsrechten
an einzelne Bestandtheile des States. Eine
ganze Reihe besonders deutscher Gebiete, Fürstenthümer, Herr-
schaften, Reichsstädte wurden zu selbständigen Staten, indem
sie einzelne Hoheitsrechte von dem Könige erlangten, und
diesen Erwerb zu vermehren wuszten, bis zuletzt dem Könige
nur ein idealer Schein von Oberhoheit zurückblieb, alle reale
Statsgewalt aber an sie entäuszert war. So strebten die frühe-
ren Theile eines Statsganzen im Laufe der Jahrhunderte zu
selbständigen Staten auf. Die äuszere Form solcher Ver-
leihung war häufig wieder die eines privatrechtlichen Erwerbes
durch Kauf oder Verpfändung, und ist insofern ungeeignet
für das moderne Statsleben. Das war aber selbst im Mittel-
alter nicht wesentlich, und es läszt sich auch in unserer Zeit
die practische Möglichkeit gar wohl denken, dasz ein Stat

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
Staten, sondern mehr um Ausbreitung der Herrschaft und
Cultur des europäischen Vaterlandes, oder um Erwerb einer
neuen ökonomischen Existenz, zuweilen auch um Sicherung
der Uebersiedler vor Verfolgung in ihrer Heimat. Im Süden
war die Abhängigkeit der Colonien von den romanischen Staten
Europas gröszer als im Norden, wo der germanische Corpo-
rationstrieb und das germanische Freiheitsgefühl wenigstens
einer relativen Selbständigkeit der Colonien günstig waren,
diese theilweise sogar hervorgerufen hatten.

Sieht man aber auf die spätere Entwicklung und Ge-
schichte dieser Colonien, so sind sie meistens zu einem selb-
ständigen Dasein erwachsen, und haben sich dann als neue
Staten losgemacht und abgesondert von jener europäischen
Herrschaft. Diese Colonisation ist daher eher der Geburt
eines Kindes zu vergleichen, welches die väterliche Familie
als ein abhängiges Glied derselben erweitert, dann aber, nach-
dem es zu körperlicher und geistiger Reife herangediehen, sich
absondert und eine neue eigene Familie begründet.

2. Eine fernere abgeleitete Statenbildung kam in dem
Mittelalter öfter vor in Gestalt der Verleihung von Ho-
heitsrechten
an einzelne Bestandtheile des States. Eine
ganze Reihe besonders deutscher Gebiete, Fürstenthümer, Herr-
schaften, Reichsstädte wurden zu selbständigen Staten, indem
sie einzelne Hoheitsrechte von dem Könige erlangten, und
diesen Erwerb zu vermehren wuszten, bis zuletzt dem Könige
nur ein idealer Schein von Oberhoheit zurückblieb, alle reale
Statsgewalt aber an sie entäuszert war. So strebten die frühe-
ren Theile eines Statsganzen im Laufe der Jahrhunderte zu
selbständigen Staten auf. Die äuszere Form solcher Ver-
leihung war häufig wieder die eines privatrechtlichen Erwerbes
durch Kauf oder Verpfändung, und ist insofern ungeeignet
für das moderne Statsleben. Das war aber selbst im Mittel-
alter nicht wesentlich, und es läszt sich auch in unserer Zeit
die practische Möglichkeit gar wohl denken, dasz ein Stat

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0336" n="318"/><fw place="top" type="header">Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.</fw><lb/>
Staten, sondern mehr um Ausbreitung der Herrschaft und<lb/>
Cultur des europäischen Vaterlandes, oder um Erwerb einer<lb/>
neuen ökonomischen Existenz, zuweilen auch um Sicherung<lb/>
der Uebersiedler vor Verfolgung in ihrer Heimat. Im Süden<lb/>
war die Abhängigkeit der Colonien von den romanischen Staten<lb/>
Europas gröszer als im Norden, wo der germanische Corpo-<lb/>
rationstrieb und das germanische Freiheitsgefühl wenigstens<lb/>
einer relativen Selbständigkeit der Colonien günstig waren,<lb/>
diese theilweise sogar hervorgerufen hatten.</p><lb/>
          <p>Sieht man aber auf die spätere Entwicklung und Ge-<lb/>
schichte dieser Colonien, so sind sie meistens zu einem selb-<lb/>
ständigen Dasein erwachsen, und haben sich dann als neue<lb/>
Staten losgemacht und abgesondert von jener europäischen<lb/>
Herrschaft. Diese Colonisation ist daher eher der Geburt<lb/>
eines Kindes zu vergleichen, welches die väterliche Familie<lb/>
als ein abhängiges Glied derselben erweitert, dann aber, nach-<lb/>
dem es zu körperlicher und geistiger Reife herangediehen, sich<lb/>
absondert und eine neue eigene Familie begründet.</p><lb/>
          <p>2. Eine fernere abgeleitete Statenbildung kam in dem<lb/>
Mittelalter öfter vor in Gestalt der <hi rendition="#g">Verleihung von Ho-<lb/>
heitsrechten</hi> an einzelne Bestandtheile des States. Eine<lb/>
ganze Reihe besonders deutscher Gebiete, Fürstenthümer, Herr-<lb/>
schaften, Reichsstädte wurden zu selbständigen Staten, indem<lb/>
sie einzelne Hoheitsrechte von dem Könige erlangten, und<lb/>
diesen Erwerb zu vermehren wuszten, bis zuletzt dem Könige<lb/>
nur ein idealer Schein von Oberhoheit zurückblieb, alle reale<lb/>
Statsgewalt aber an sie entäuszert war. So strebten die frühe-<lb/>
ren Theile eines Statsganzen im Laufe der Jahrhunderte zu<lb/>
selbständigen Staten auf. Die äuszere Form solcher Ver-<lb/>
leihung war häufig wieder die eines privatrechtlichen Erwerbes<lb/>
durch Kauf oder Verpfändung, und ist insofern ungeeignet<lb/>
für das moderne Statsleben. Das war aber selbst im Mittel-<lb/>
alter nicht wesentlich, und es läszt sich auch in unserer Zeit<lb/>
die practische Möglichkeit gar wohl denken, dasz ein Stat<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[318/0336] Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States. Staten, sondern mehr um Ausbreitung der Herrschaft und Cultur des europäischen Vaterlandes, oder um Erwerb einer neuen ökonomischen Existenz, zuweilen auch um Sicherung der Uebersiedler vor Verfolgung in ihrer Heimat. Im Süden war die Abhängigkeit der Colonien von den romanischen Staten Europas gröszer als im Norden, wo der germanische Corpo- rationstrieb und das germanische Freiheitsgefühl wenigstens einer relativen Selbständigkeit der Colonien günstig waren, diese theilweise sogar hervorgerufen hatten. Sieht man aber auf die spätere Entwicklung und Ge- schichte dieser Colonien, so sind sie meistens zu einem selb- ständigen Dasein erwachsen, und haben sich dann als neue Staten losgemacht und abgesondert von jener europäischen Herrschaft. Diese Colonisation ist daher eher der Geburt eines Kindes zu vergleichen, welches die väterliche Familie als ein abhängiges Glied derselben erweitert, dann aber, nach- dem es zu körperlicher und geistiger Reife herangediehen, sich absondert und eine neue eigene Familie begründet. 2. Eine fernere abgeleitete Statenbildung kam in dem Mittelalter öfter vor in Gestalt der Verleihung von Ho- heitsrechten an einzelne Bestandtheile des States. Eine ganze Reihe besonders deutscher Gebiete, Fürstenthümer, Herr- schaften, Reichsstädte wurden zu selbständigen Staten, indem sie einzelne Hoheitsrechte von dem Könige erlangten, und diesen Erwerb zu vermehren wuszten, bis zuletzt dem Könige nur ein idealer Schein von Oberhoheit zurückblieb, alle reale Statsgewalt aber an sie entäuszert war. So strebten die frühe- ren Theile eines Statsganzen im Laufe der Jahrhunderte zu selbständigen Staten auf. Die äuszere Form solcher Ver- leihung war häufig wieder die eines privatrechtlichen Erwerbes durch Kauf oder Verpfändung, und ist insofern ungeeignet für das moderne Statsleben. Das war aber selbst im Mittel- alter nicht wesentlich, und es läszt sich auch in unserer Zeit die practische Möglichkeit gar wohl denken, dasz ein Stat

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/336
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/336>, abgerufen am 26.04.2024.