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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
Schirmer des niedern Volks und seiner Rechte zu sein, einen
erhöhten Anspruch bekamen; die censorische Gewalt,
welche ihnen die Aufsicht über die Sitten und die Befugnisz
verlieh, die Listen des Senats und der Ritter nach ihrem
Ermessen zu bereinigen; die Würde des pontifex maximus,
und damit die Befugnisz über wichtige Fragen des geistlichen
Rechts zu entscheiden. Von Zeit zu Zeit nahmen sie auch
persönlich die Würde eines Consuls an. Aber in der Haupt-
sache, in Idee und Macht, bestand die Statsveränderung
nicht in solcher Cumulation von Magistraturen, sondern in
der neuen Begründung einer einheitlichen Centralmacht,
einer wahren Monarchie. Republikanische Formen ver-
deckten einem Theil der Bevölkerung anfänglich den Ueber-
gang in die Monarchie; in den Augen der Kundigen aber war
diese schon unter Augustus vollständig eingeführt. Das mon-
archische Princip wurde schon bei der Erhebung des Kaisers
Tiberius sehr scharf im Senate ausgesprochen: "Nicht darum
kann es sich nunmehr handeln, zu trennen was unzertrenn-
lich verbunden ist, sondern um Anerkennung des Grundsatzes,
dasz der Stat Ein groszer Leib ist, und durch Einen
Geist
regiert werden musz." 1

Der Name Princeps (Senatus) freilich war bescheiden,
die Macht des Kaisers dagegen so unermeszlich, dasz nur
wenige Individuen den Genusz derselben zu ertragen ver-
mochten, die meisten durch das Uebermasz geistig oder mo-
ralisch ruinirt wurden. Die Gewalt und die Würde war nicht
erblich
, dem Kaiser nicht anerboren, sondern dieser wurde
gewählt, anfänglich dem Scheine nach nur auf zehn Jahre,
in Wahrheit aber auf Lebenszeit. Sie hatte einen mensch-
lichen, nicht einen göttlichen Ursprung, und erkannte die
Hoheit des Volkes an. Durch ein Volksgesetz wurde ihm die

1 Tacitus Ann. I. 12; I. 1. von Augustus: "Cuncta discordilis civili-
bus fessa nomine Principis sub imperium accepit." Vgl. die Verhand-
lungen von Mäcenas und Agrippa mit Augustus bei Dio Cassius 52.

Sechstes Buch. Die Statsformen.
Schirmer des niedern Volks und seiner Rechte zu sein, einen
erhöhten Anspruch bekamen; die censorische Gewalt,
welche ihnen die Aufsicht über die Sitten und die Befugnisz
verlieh, die Listen des Senats und der Ritter nach ihrem
Ermessen zu bereinigen; die Würde des pontifex maximus,
und damit die Befugnisz über wichtige Fragen des geistlichen
Rechts zu entscheiden. Von Zeit zu Zeit nahmen sie auch
persönlich die Würde eines Consuls an. Aber in der Haupt-
sache, in Idee und Macht, bestand die Statsveränderung
nicht in solcher Cumulation von Magistraturen, sondern in
der neuen Begründung einer einheitlichen Centralmacht,
einer wahren Monarchie. Republikanische Formen ver-
deckten einem Theil der Bevölkerung anfänglich den Ueber-
gang in die Monarchie; in den Augen der Kundigen aber war
diese schon unter Augustus vollständig eingeführt. Das mon-
archische Princip wurde schon bei der Erhebung des Kaisers
Tiberius sehr scharf im Senate ausgesprochen: „Nicht darum
kann es sich nunmehr handeln, zu trennen was unzertrenn-
lich verbunden ist, sondern um Anerkennung des Grundsatzes,
dasz der Stat Ein groszer Leib ist, und durch Einen
Geist
regiert werden musz.“ 1

Der Name Princeps (Senatus) freilich war bescheiden,
die Macht des Kaisers dagegen so unermeszlich, dasz nur
wenige Individuen den Genusz derselben zu ertragen ver-
mochten, die meisten durch das Uebermasz geistig oder mo-
ralisch ruinirt wurden. Die Gewalt und die Würde war nicht
erblich
, dem Kaiser nicht anerboren, sondern dieser wurde
gewählt, anfänglich dem Scheine nach nur auf zehn Jahre,
in Wahrheit aber auf Lebenszeit. Sie hatte einen mensch-
lichen, nicht einen göttlichen Ursprung, und erkannte die
Hoheit des Volkes an. Durch ein Volksgesetz wurde ihm die

1 Tacitus Ann. I. 12; I. 1. von Augustus: „Cuncta discordilis civili-
bus fessa nomine Principis sub imperium accepit.“ Vgl. die Verhand-
lungen von Mäcenas und Agrippa mit Augustus bei Dio Cassius 52.
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[416/0434] Sechstes Buch. Die Statsformen. Schirmer des niedern Volks und seiner Rechte zu sein, einen erhöhten Anspruch bekamen; die censorische Gewalt, welche ihnen die Aufsicht über die Sitten und die Befugnisz verlieh, die Listen des Senats und der Ritter nach ihrem Ermessen zu bereinigen; die Würde des pontifex maximus, und damit die Befugnisz über wichtige Fragen des geistlichen Rechts zu entscheiden. Von Zeit zu Zeit nahmen sie auch persönlich die Würde eines Consuls an. Aber in der Haupt- sache, in Idee und Macht, bestand die Statsveränderung nicht in solcher Cumulation von Magistraturen, sondern in der neuen Begründung einer einheitlichen Centralmacht, einer wahren Monarchie. Republikanische Formen ver- deckten einem Theil der Bevölkerung anfänglich den Ueber- gang in die Monarchie; in den Augen der Kundigen aber war diese schon unter Augustus vollständig eingeführt. Das mon- archische Princip wurde schon bei der Erhebung des Kaisers Tiberius sehr scharf im Senate ausgesprochen: „Nicht darum kann es sich nunmehr handeln, zu trennen was unzertrenn- lich verbunden ist, sondern um Anerkennung des Grundsatzes, dasz der Stat Ein groszer Leib ist, und durch Einen Geist regiert werden musz.“ 1 Der Name Princeps (Senatus) freilich war bescheiden, die Macht des Kaisers dagegen so unermeszlich, dasz nur wenige Individuen den Genusz derselben zu ertragen ver- mochten, die meisten durch das Uebermasz geistig oder mo- ralisch ruinirt wurden. Die Gewalt und die Würde war nicht erblich, dem Kaiser nicht anerboren, sondern dieser wurde gewählt, anfänglich dem Scheine nach nur auf zehn Jahre, in Wahrheit aber auf Lebenszeit. Sie hatte einen mensch- lichen, nicht einen göttlichen Ursprung, und erkannte die Hoheit des Volkes an. Durch ein Volksgesetz wurde ihm die 1 Tacitus Ann. I. 12; I. 1. von Augustus: „Cuncta discordilis civili- bus fessa nomine Principis sub imperium accepit.“ Vgl. die Verhand- lungen von Mäcenas und Agrippa mit Augustus bei Dio Cassius 52.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/434>, abgerufen am 27.04.2024.