Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechstes Buch. Die Statsformen.
schwache Schranke fand, als die deutschen Reichsfürsten ihrer
Zugehörigkeit zum Reich bewuszt und einiger Maszen vor den
Reichsgerichten (Reichskammergericht und Reichshofrath) Rede
zu stehen genöthigt waren.

2. Die Wendung erfolgte von dem Königreich Preuszen
aus. Wie Oesterreich aus dem deutschen Reiche heraus zu
einer selbständigen europäischen Groszmacht heranwuchs, die
mit Frankreich rivalisirte, so entstand im Norden von Deutsch-
land ein neuer Statskörper, der im Kampfe gegen das mittel-
alterliche Reich, aber im Geiste der deutschen Nationalität
sich rasch und kühn ausbreitete. Stützte sich das österreichi-
sche und katholische Haus Habsburg, später Lothringen, vor-
züglich auf die römische Kaiserwürde, das herkömmliche Recht,
den Klerus, den Adel und eine aus mancherlei Volksstämmen
gemischte Armee, so wurde das protestantische Haus Hohen-
zollern der Repräsentant und Schirmherr der modernen Ent-
wicklung des deutschen Geistes und der Volksfreiheit.

Friedrich der Grosze von Preuszen (1740-1778) ver-
dient in Wahrheit als der geistige Vater der modernen con-
stitutionellen Monarchie für den Continent geehrt zu werden.
Hätten die Völker ihn besser verstanden und die Fürsten ihm
mehr gefolgt, so hätte sich der Uebergang aus der absoluten
in die constitutionelle Statsform leichter vollzogen. Niemand
hat energischer als er den Satz bekämpft, dasz der König
der Herr des States sei, niemand bestimmter ausgesprochen,
dasz das Königthum ein Statsamt und der König der oberste
Diener des States sei. Die ganze mittelalterliche Lehre von
dem göttlichen Recht und der Eigenthumsherrschaft der Kö-
nige hat er entschieden verworfen. Wenn er dessen unge-
achtet weder die alte ständische Verfassung erneuerte, noch
eine neue repräsentative schuf, sondern die ererbte absolute
Gewalt fortsetzte, so erklärt sich das genügend daraus, dasz
sein Volk politisch noch sehr unreif und er persönlich dem-
selben allzusehr überlegen war. Aber er bereitete die künf-

Sechstes Buch. Die Statsformen.
schwache Schranke fand, als die deutschen Reichsfürsten ihrer
Zugehörigkeit zum Reich bewuszt und einiger Maszen vor den
Reichsgerichten (Reichskammergericht und Reichshofrath) Rede
zu stehen genöthigt waren.

2. Die Wendung erfolgte von dem Königreich Preuszen
aus. Wie Oesterreich aus dem deutschen Reiche heraus zu
einer selbständigen europäischen Groszmacht heranwuchs, die
mit Frankreich rivalisirte, so entstand im Norden von Deutsch-
land ein neuer Statskörper, der im Kampfe gegen das mittel-
alterliche Reich, aber im Geiste der deutschen Nationalität
sich rasch und kühn ausbreitete. Stützte sich das österreichi-
sche und katholische Haus Habsburg, später Lothringen, vor-
züglich auf die römische Kaiserwürde, das herkömmliche Recht,
den Klerus, den Adel und eine aus mancherlei Volksstämmen
gemischte Armee, so wurde das protestantische Haus Hohen-
zollern der Repräsentant und Schirmherr der modernen Ent-
wicklung des deutschen Geistes und der Volksfreiheit.

Friedrich der Grosze von Preuszen (1740-1778) ver-
dient in Wahrheit als der geistige Vater der modernen con-
stitutionellen Monarchie für den Continent geehrt zu werden.
Hätten die Völker ihn besser verstanden und die Fürsten ihm
mehr gefolgt, so hätte sich der Uebergang aus der absoluten
in die constitutionelle Statsform leichter vollzogen. Niemand
hat energischer als er den Satz bekämpft, dasz der König
der Herr des States sei, niemand bestimmter ausgesprochen,
dasz das Königthum ein Statsamt und der König der oberste
Diener des States sei. Die ganze mittelalterliche Lehre von
dem göttlichen Recht und der Eigenthumsherrschaft der Kö-
nige hat er entschieden verworfen. Wenn er dessen unge-
achtet weder die alte ständische Verfassung erneuerte, noch
eine neue repräsentative schuf, sondern die ererbte absolute
Gewalt fortsetzte, so erklärt sich das genügend daraus, dasz
sein Volk politisch noch sehr unreif und er persönlich dem-
selben allzusehr überlegen war. Aber er bereitete die künf-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0490" n="472"/><fw place="top" type="header">Sechstes Buch. Die Statsformen.</fw><lb/>
schwache Schranke fand, als die deutschen Reichsfürsten ihrer<lb/>
Zugehörigkeit zum Reich bewuszt und einiger Maszen vor den<lb/>
Reichsgerichten (Reichskammergericht und Reichshofrath) Rede<lb/>
zu stehen genöthigt waren.</p><lb/>
          <p>2. Die Wendung erfolgte von dem Königreich <hi rendition="#g">Preuszen</hi><lb/>
aus. Wie Oesterreich aus dem deutschen Reiche heraus zu<lb/>
einer selbständigen europäischen Groszmacht heranwuchs, die<lb/>
mit Frankreich rivalisirte, so entstand im Norden von Deutsch-<lb/>
land ein neuer Statskörper, der im Kampfe gegen das mittel-<lb/>
alterliche Reich, aber im Geiste der deutschen Nationalität<lb/>
sich rasch und kühn ausbreitete. Stützte sich das österreichi-<lb/>
sche und katholische Haus Habsburg, später Lothringen, vor-<lb/>
züglich auf die römische Kaiserwürde, das herkömmliche Recht,<lb/>
den Klerus, den Adel und eine aus mancherlei Volksstämmen<lb/>
gemischte Armee, so wurde das protestantische Haus Hohen-<lb/>
zollern der Repräsentant und Schirmherr der modernen Ent-<lb/>
wicklung des deutschen Geistes und der Volksfreiheit.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Friedrich der Grosze</hi> von Preuszen (1740-1778) ver-<lb/>
dient in Wahrheit als der geistige Vater der modernen con-<lb/>
stitutionellen Monarchie für den Continent geehrt zu werden.<lb/>
Hätten die Völker ihn besser verstanden und die Fürsten ihm<lb/>
mehr gefolgt, so hätte sich der Uebergang aus der absoluten<lb/>
in die constitutionelle Statsform leichter vollzogen. Niemand<lb/>
hat energischer als er den Satz bekämpft, dasz der König<lb/>
der Herr des States sei, niemand bestimmter ausgesprochen,<lb/>
dasz das Königthum ein Statsamt und der König der oberste<lb/>
Diener des States sei. Die ganze mittelalterliche Lehre von<lb/>
dem göttlichen Recht und der Eigenthumsherrschaft der Kö-<lb/>
nige hat er entschieden verworfen. Wenn er dessen unge-<lb/>
achtet weder die alte ständische Verfassung erneuerte, noch<lb/>
eine neue repräsentative schuf, sondern die ererbte absolute<lb/>
Gewalt fortsetzte, so erklärt sich das genügend daraus, dasz<lb/>
sein Volk politisch noch sehr unreif und er persönlich dem-<lb/>
selben allzusehr überlegen war. Aber er bereitete die künf-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[472/0490] Sechstes Buch. Die Statsformen. schwache Schranke fand, als die deutschen Reichsfürsten ihrer Zugehörigkeit zum Reich bewuszt und einiger Maszen vor den Reichsgerichten (Reichskammergericht und Reichshofrath) Rede zu stehen genöthigt waren. 2. Die Wendung erfolgte von dem Königreich Preuszen aus. Wie Oesterreich aus dem deutschen Reiche heraus zu einer selbständigen europäischen Groszmacht heranwuchs, die mit Frankreich rivalisirte, so entstand im Norden von Deutsch- land ein neuer Statskörper, der im Kampfe gegen das mittel- alterliche Reich, aber im Geiste der deutschen Nationalität sich rasch und kühn ausbreitete. Stützte sich das österreichi- sche und katholische Haus Habsburg, später Lothringen, vor- züglich auf die römische Kaiserwürde, das herkömmliche Recht, den Klerus, den Adel und eine aus mancherlei Volksstämmen gemischte Armee, so wurde das protestantische Haus Hohen- zollern der Repräsentant und Schirmherr der modernen Ent- wicklung des deutschen Geistes und der Volksfreiheit. Friedrich der Grosze von Preuszen (1740-1778) ver- dient in Wahrheit als der geistige Vater der modernen con- stitutionellen Monarchie für den Continent geehrt zu werden. Hätten die Völker ihn besser verstanden und die Fürsten ihm mehr gefolgt, so hätte sich der Uebergang aus der absoluten in die constitutionelle Statsform leichter vollzogen. Niemand hat energischer als er den Satz bekämpft, dasz der König der Herr des States sei, niemand bestimmter ausgesprochen, dasz das Königthum ein Statsamt und der König der oberste Diener des States sei. Die ganze mittelalterliche Lehre von dem göttlichen Recht und der Eigenthumsherrschaft der Kö- nige hat er entschieden verworfen. Wenn er dessen unge- achtet weder die alte ständische Verfassung erneuerte, noch eine neue repräsentative schuf, sondern die ererbte absolute Gewalt fortsetzte, so erklärt sich das genügend daraus, dasz sein Volk politisch noch sehr unreif und er persönlich dem- selben allzusehr überlegen war. Aber er bereitete die künf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/490
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/490>, abgerufen am 28.04.2024.