Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
Einundzwanzigstes Capitel. IV. Demokrat. Statsformen. Beurtheilung etc.

Soll die reine Demokratie daher eine gute Verfassung
sein, so musz die Bürgerschaft in ihrer Mehrheit politisch
fähig und tüchtig
, d.h. die Einsicht der Menge musz aus-
gezeichnet und ihr Charakter vortrefflich sein. Es ist aber
immerhin eine sehr bedenkliche Erfahrung für diese Statsform,
dasz selbst in Athen, unter einem geistig so hochgebildeten
Volke, dessen Charakter sich vorzüglich im Unglück und in
der Gefahr grosz zeigte, somit eine ausgezeichnete Anlage
hatte, die reine Demokratie sich nur während ganz kurzer
Zeit vor der Entartung und dem Verfall bewahrte. Ja selbst
in der Periode ihrer höchsten Blüthe und Herrlichkeit beruhte
ihre Grösze vornehmlich darauf, dasz das Volk nicht seinen
Willen selber bestimmte, sondern der Autorität und Leitung
eines groszen Statsmannes völlig vertraute, dasz Einer die
Menge factisch beherrschte. Thukydides 2 sagt von den Zeiten
des Perikles: "Den Worten nach war Athen eine Demo-
kratie, in der Wirklichkeit aber war der Stat unter der Herr-
schaft des Ersten Mannes."

Die Tugend der Menge, wenn sie den berauschenden
Wein der Macht getrunken, hält nicht Stand. So lange noch
die religiöse Scheu vor der Gerechtigkeit Gottes lebendig ist
in ihrem Herzen, so lange noch die Sitte und das Gesetz sie
in Schranken hält, und die Achtung vor der überlegenen
Autorität der Besten waltet, so lange allerdings kann auch die
demokratische Form der Herrschaft bestehen, und es ist nicht
zu verkennen, dasz dann auch die Masse der Individuen des
demokratischen Volkes durch die Beschäftigung mit den öffent-
lichen Angelegenheiten gehoben wird, und sich vor den Bür-
gern anderer Staten durch eine reichere und selbstbewusztere
Entwicklung ihrer Anlagen auszeichnet. Jeder Einzelne musz,
weil er Theil an der gemeinsamen Herrschaft hat, seine Blicke
über die enge Grenze seines Berufes hinaus richten, er wird

2 Thukydid. II. 65.
Einundzwanzigstes Capitel. IV. Demokrat. Statsformen. Beurtheilung etc.

Soll die reine Demokratie daher eine gute Verfassung
sein, so musz die Bürgerschaft in ihrer Mehrheit politisch
fähig und tüchtig
, d.h. die Einsicht der Menge musz aus-
gezeichnet und ihr Charakter vortrefflich sein. Es ist aber
immerhin eine sehr bedenkliche Erfahrung für diese Statsform,
dasz selbst in Athen, unter einem geistig so hochgebildeten
Volke, dessen Charakter sich vorzüglich im Unglück und in
der Gefahr grosz zeigte, somit eine ausgezeichnete Anlage
hatte, die reine Demokratie sich nur während ganz kurzer
Zeit vor der Entartung und dem Verfall bewahrte. Ja selbst
in der Periode ihrer höchsten Blüthe und Herrlichkeit beruhte
ihre Grösze vornehmlich darauf, dasz das Volk nicht seinen
Willen selber bestimmte, sondern der Autorität und Leitung
eines groszen Statsmannes völlig vertraute, dasz Einer die
Menge factisch beherrschte. Thukydides 2 sagt von den Zeiten
des Perikles: „Den Worten nach war Athen eine Demo-
kratie, in der Wirklichkeit aber war der Stat unter der Herr-
schaft des Ersten Mannes.“

Die Tugend der Menge, wenn sie den berauschenden
Wein der Macht getrunken, hält nicht Stand. So lange noch
die religiöse Scheu vor der Gerechtigkeit Gottes lebendig ist
in ihrem Herzen, so lange noch die Sitte und das Gesetz sie
in Schranken hält, und die Achtung vor der überlegenen
Autorität der Besten waltet, so lange allerdings kann auch die
demokratische Form der Herrschaft bestehen, und es ist nicht
zu verkennen, dasz dann auch die Masse der Individuen des
demokratischen Volkes durch die Beschäftigung mit den öffent-
lichen Angelegenheiten gehoben wird, und sich vor den Bür-
gern anderer Staten durch eine reichere und selbstbewusztere
Entwicklung ihrer Anlagen auszeichnet. Jeder Einzelne musz,
weil er Theil an der gemeinsamen Herrschaft hat, seine Blicke
über die enge Grenze seines Berufes hinaus richten, er wird

2 Thukydid. II. 65.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0551" n="533"/>
          <fw place="top" type="header">Einundzwanzigstes Capitel. IV. Demokrat. Statsformen. Beurtheilung etc.</fw><lb/>
          <p>Soll die reine Demokratie daher eine gute Verfassung<lb/>
sein, so musz die Bürgerschaft in ihrer Mehrheit <hi rendition="#g">politisch<lb/>
fähig und tüchtig</hi>, d.h. die Einsicht der Menge musz aus-<lb/>
gezeichnet und ihr Charakter vortrefflich sein. Es ist aber<lb/>
immerhin eine sehr bedenkliche Erfahrung für diese Statsform,<lb/>
dasz selbst in Athen, unter einem geistig so hochgebildeten<lb/>
Volke, dessen Charakter sich vorzüglich im Unglück und in<lb/>
der Gefahr grosz zeigte, somit eine ausgezeichnete Anlage<lb/>
hatte, die reine Demokratie sich nur während ganz kurzer<lb/>
Zeit vor der Entartung und dem Verfall bewahrte. Ja selbst<lb/>
in der Periode ihrer höchsten Blüthe und Herrlichkeit beruhte<lb/>
ihre Grösze vornehmlich darauf, dasz das Volk nicht seinen<lb/>
Willen selber bestimmte, sondern der Autorität und Leitung<lb/>
eines groszen Statsmannes völlig vertraute, dasz Einer die<lb/>
Menge factisch beherrschte. Thukydides <note place="foot" n="2"><hi rendition="#i">Thukydid.</hi> II. 65.</note> sagt von den Zeiten<lb/>
des <hi rendition="#g">Perikles</hi>: &#x201E;Den Worten nach war Athen eine Demo-<lb/>
kratie, in der Wirklichkeit aber war der Stat unter der Herr-<lb/>
schaft des Ersten Mannes.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Die Tugend der Menge, wenn sie den berauschenden<lb/>
Wein der Macht getrunken, hält nicht Stand. So lange noch<lb/>
die religiöse Scheu vor der Gerechtigkeit Gottes lebendig ist<lb/>
in ihrem Herzen, so lange noch die Sitte und das Gesetz sie<lb/>
in Schranken hält, und die Achtung vor der überlegenen<lb/>
Autorität der Besten waltet, so lange allerdings kann auch die<lb/>
demokratische Form der Herrschaft bestehen, und es ist nicht<lb/>
zu verkennen, dasz dann auch die Masse der Individuen des<lb/>
demokratischen Volkes durch die Beschäftigung mit den öffent-<lb/>
lichen Angelegenheiten gehoben wird, und sich vor den Bür-<lb/>
gern anderer Staten durch eine reichere und selbstbewusztere<lb/>
Entwicklung ihrer Anlagen auszeichnet. Jeder Einzelne musz,<lb/>
weil er Theil an der gemeinsamen Herrschaft hat, seine Blicke<lb/>
über die enge Grenze seines Berufes hinaus richten, er wird<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[533/0551] Einundzwanzigstes Capitel. IV. Demokrat. Statsformen. Beurtheilung etc. Soll die reine Demokratie daher eine gute Verfassung sein, so musz die Bürgerschaft in ihrer Mehrheit politisch fähig und tüchtig, d.h. die Einsicht der Menge musz aus- gezeichnet und ihr Charakter vortrefflich sein. Es ist aber immerhin eine sehr bedenkliche Erfahrung für diese Statsform, dasz selbst in Athen, unter einem geistig so hochgebildeten Volke, dessen Charakter sich vorzüglich im Unglück und in der Gefahr grosz zeigte, somit eine ausgezeichnete Anlage hatte, die reine Demokratie sich nur während ganz kurzer Zeit vor der Entartung und dem Verfall bewahrte. Ja selbst in der Periode ihrer höchsten Blüthe und Herrlichkeit beruhte ihre Grösze vornehmlich darauf, dasz das Volk nicht seinen Willen selber bestimmte, sondern der Autorität und Leitung eines groszen Statsmannes völlig vertraute, dasz Einer die Menge factisch beherrschte. Thukydides 2 sagt von den Zeiten des Perikles: „Den Worten nach war Athen eine Demo- kratie, in der Wirklichkeit aber war der Stat unter der Herr- schaft des Ersten Mannes.“ Die Tugend der Menge, wenn sie den berauschenden Wein der Macht getrunken, hält nicht Stand. So lange noch die religiöse Scheu vor der Gerechtigkeit Gottes lebendig ist in ihrem Herzen, so lange noch die Sitte und das Gesetz sie in Schranken hält, und die Achtung vor der überlegenen Autorität der Besten waltet, so lange allerdings kann auch die demokratische Form der Herrschaft bestehen, und es ist nicht zu verkennen, dasz dann auch die Masse der Individuen des demokratischen Volkes durch die Beschäftigung mit den öffent- lichen Angelegenheiten gehoben wird, und sich vor den Bür- gern anderer Staten durch eine reichere und selbstbewusztere Entwicklung ihrer Anlagen auszeichnet. Jeder Einzelne musz, weil er Theil an der gemeinsamen Herrschaft hat, seine Blicke über die enge Grenze seines Berufes hinaus richten, er wird 2 Thukydid. II. 65.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/551
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 533. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/551>, abgerufen am 01.05.2024.