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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.

Eben deshalb aber ist es ein groszer Fortschritt in der
richtigen Anordnung des Statsorganismus, dasz in dem mo-
dernen State die Ausscheidung der richterlichen Organe
und Befugnisse von denen der Regierung vollzogen worden
ist, im Gegensatz zu dem gesammten Alterthum und dem
Mittelalter, welches immer die Regierungs- und die richter-
liche Gewalt von den nämlichen Magistraten ausüben liesz.
Die Reinheit des Rechts und die wahre Freiheit der Bürger
haben durch dieselbe gewonnen, und die Macht der Regie-
rung verliert nicht, wenn sie vor Miszbrauch und Uebergriffen
in die Sphäre der Rechtspflege bewahrt wird. 4 Wie verschie-
den die beiderlei Gewalten sind, zeigt sich in der Erfahrung
des Lebens auch darin, dasz nur selten ausgezeichnete
Statsmänner
und Regierungsbeamtete auch gute
Richter
, und umgekehrt selten tüchtige Richter auch gute
Regierungsbeamte waren.

Das Gericht als die weniger obrigkeitliche Gewalt steht
mit dem Regiment nicht auf einer Linie, sondern ist, obwohl
in der Hauptsache von diesem unabhängig, doch demselben
untergeordnet, ähnlich wie das Herz dem Kopf.

In gewissem Betracht scheinen durch die Anerkennung
dieses Gegensatzes die statlichen Sondergewalten erschöpft zu

4 In diesem Sinne darf man wohl an die Worte Washington's
erinnern, in seiner bewundernswürdigen Abschiedsadresse vom Jahre 1796:
"Es ist wichtig, dasz die Männer, welche in einem freien Lande an der
öffentlichen Gewalt Theil haben, sich innerhalb der verfassungsmäszigen
Grenzen halten und nicht die einen in die Befugnisse der andern über-
greifen. Dieser Geist der Uebergriffe strebt darnach, alle Macht aus-
schlieszlich in sich zu vereinigen, und folglich den Despotismus einzu-
führen, in welchem State immer er sich zeigt. Es genügt zu wissen,
wie sehr die Liebe zur Macht und die Neigung, dieselbe zu miszbrauchen,
dem menschlichen Herzen natürlich sind, um diese Wahrheiten zu fühlen.
Daher die Nothwendigkeit, die öffentlichen Gewalten durch ihre Theilung
und Vertheilung unter mehrere Inhaber, welche dieses öffentliche Gut vor
den Eingriffen Anderer schützen, ins Gleichgewicht zu bringen. Es ist
nicht minder nothwendig, die Gewalten in ihren Schranken zu
halten
, als dieselben einzusetzen."
Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.

Eben deshalb aber ist es ein groszer Fortschritt in der
richtigen Anordnung des Statsorganismus, dasz in dem mo-
dernen State die Ausscheidung der richterlichen Organe
und Befugnisse von denen der Regierung vollzogen worden
ist, im Gegensatz zu dem gesammten Alterthum und dem
Mittelalter, welches immer die Regierungs- und die richter-
liche Gewalt von den nämlichen Magistraten ausüben liesz.
Die Reinheit des Rechts und die wahre Freiheit der Bürger
haben durch dieselbe gewonnen, und die Macht der Regie-
rung verliert nicht, wenn sie vor Miszbrauch und Uebergriffen
in die Sphäre der Rechtspflege bewahrt wird. 4 Wie verschie-
den die beiderlei Gewalten sind, zeigt sich in der Erfahrung
des Lebens auch darin, dasz nur selten ausgezeichnete
Statsmänner
und Regierungsbeamtete auch gute
Richter
, und umgekehrt selten tüchtige Richter auch gute
Regierungsbeamte waren.

Das Gericht als die weniger obrigkeitliche Gewalt steht
mit dem Regiment nicht auf einer Linie, sondern ist, obwohl
in der Hauptsache von diesem unabhängig, doch demselben
untergeordnet, ähnlich wie das Herz dem Kopf.

In gewissem Betracht scheinen durch die Anerkennung
dieses Gegensatzes die statlichen Sondergewalten erschöpft zu

4 In diesem Sinne darf man wohl an die Worte Washington's
erinnern, in seiner bewundernswürdigen Abschiedsadresse vom Jahre 1796:
„Es ist wichtig, dasz die Männer, welche in einem freien Lande an der
öffentlichen Gewalt Theil haben, sich innerhalb der verfassungsmäszigen
Grenzen halten und nicht die einen in die Befugnisse der andern über-
greifen. Dieser Geist der Uebergriffe strebt darnach, alle Macht aus-
schlieszlich in sich zu vereinigen, und folglich den Despotismus einzu-
führen, in welchem State immer er sich zeigt. Es genügt zu wissen,
wie sehr die Liebe zur Macht und die Neigung, dieselbe zu miszbrauchen,
dem menschlichen Herzen natürlich sind, um diese Wahrheiten zu fühlen.
Daher die Nothwendigkeit, die öffentlichen Gewalten durch ihre Theilung
und Vertheilung unter mehrere Inhaber, welche dieses öffentliche Gut vor
den Eingriffen Anderer schützen, ins Gleichgewicht zu bringen. Es ist
nicht minder nothwendig, die Gewalten in ihren Schranken zu
halten
, als dieselben einzusetzen.“
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[596/0614] Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc. Eben deshalb aber ist es ein groszer Fortschritt in der richtigen Anordnung des Statsorganismus, dasz in dem mo- dernen State die Ausscheidung der richterlichen Organe und Befugnisse von denen der Regierung vollzogen worden ist, im Gegensatz zu dem gesammten Alterthum und dem Mittelalter, welches immer die Regierungs- und die richter- liche Gewalt von den nämlichen Magistraten ausüben liesz. Die Reinheit des Rechts und die wahre Freiheit der Bürger haben durch dieselbe gewonnen, und die Macht der Regie- rung verliert nicht, wenn sie vor Miszbrauch und Uebergriffen in die Sphäre der Rechtspflege bewahrt wird. 4 Wie verschie- den die beiderlei Gewalten sind, zeigt sich in der Erfahrung des Lebens auch darin, dasz nur selten ausgezeichnete Statsmänner und Regierungsbeamtete auch gute Richter, und umgekehrt selten tüchtige Richter auch gute Regierungsbeamte waren. Das Gericht als die weniger obrigkeitliche Gewalt steht mit dem Regiment nicht auf einer Linie, sondern ist, obwohl in der Hauptsache von diesem unabhängig, doch demselben untergeordnet, ähnlich wie das Herz dem Kopf. In gewissem Betracht scheinen durch die Anerkennung dieses Gegensatzes die statlichen Sondergewalten erschöpft zu 4 In diesem Sinne darf man wohl an die Worte Washington's erinnern, in seiner bewundernswürdigen Abschiedsadresse vom Jahre 1796: „Es ist wichtig, dasz die Männer, welche in einem freien Lande an der öffentlichen Gewalt Theil haben, sich innerhalb der verfassungsmäszigen Grenzen halten und nicht die einen in die Befugnisse der andern über- greifen. Dieser Geist der Uebergriffe strebt darnach, alle Macht aus- schlieszlich in sich zu vereinigen, und folglich den Despotismus einzu- führen, in welchem State immer er sich zeigt. Es genügt zu wissen, wie sehr die Liebe zur Macht und die Neigung, dieselbe zu miszbrauchen, dem menschlichen Herzen natürlich sind, um diese Wahrheiten zu fühlen. Daher die Nothwendigkeit, die öffentlichen Gewalten durch ihre Theilung und Vertheilung unter mehrere Inhaber, welche dieses öffentliche Gut vor den Eingriffen Anderer schützen, ins Gleichgewicht zu bringen. Es ist nicht minder nothwendig, die Gewalten in ihren Schranken zu halten, als dieselben einzusetzen.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/614>, abgerufen am 09.06.2024.