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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
erhalten werden, insofern es mit der allgemeinen Entwicklung nicht zugleich fort-
dauern kann. Diese Entwicklung kann und darf nicht durch Verträge, welche einer
andern vergangenen Zeit angehören und damals einen Sinn hatten, der inzwischen
verloren gegangen ist, verhindert werden. Denn das hieße die Staten und die
Menschheit an der Erfüllung ihrer Bestimmung verhindern und das Wesen des
Rechts selber verderben. In dieser Weise sind unzählige Statsdienstbarkeiten, welche
im Mittelalter entstanden waren und damals zu der herrschenden Lehensverfassung
paßten, seit der Ausbildung des modernen States mit dem Lehensrechte untergegan-
gen. Wenn ein Stat in seinem Innern Einheit und Gleichheit der Rechtspflege
einführte und in Folge dessen die patrimoniale Gerichtsbarkeit der Grundherrn ab-
schaffte, so ließ er sich auch nicht abhalten, aus denselben Gründen und einfach durch
seine Verfassungs- und Gesetzesreform die patrimoniale Gerichtsbarkeit eines fremden
Landesherrn in seinem Lande abzuschaffen, welche mit jener grundherrlichen Gerichts-
barkeit des einheimischen Adels wesentlich identisch und ganz eben so wenig mit den
modernen Grundsätzen der Rechtspflege verträglich ist. In ähnlicher Weise ist besonders
seit der französischen Revolution die vom Mittelalter überlieferte Verflechtung
verschiedener Landeshoheiten auf demselben Gebiete
gelöst und ein
einfacheres und gleichmäßigeres Rechtsverhältniß hergestellt worden.


Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
erhalten werden, inſofern es mit der allgemeinen Entwicklung nicht zugleich fort-
dauern kann. Dieſe Entwicklung kann und darf nicht durch Verträge, welche einer
andern vergangenen Zeit angehören und damals einen Sinn hatten, der inzwiſchen
verloren gegangen iſt, verhindert werden. Denn das hieße die Staten und die
Menſchheit an der Erfüllung ihrer Beſtimmung verhindern und das Weſen des
Rechts ſelber verderben. In dieſer Weiſe ſind unzählige Statsdienſtbarkeiten, welche
im Mittelalter entſtanden waren und damals zu der herrſchenden Lehensverfaſſung
paßten, ſeit der Ausbildung des modernen States mit dem Lehensrechte untergegan-
gen. Wenn ein Stat in ſeinem Innern Einheit und Gleichheit der Rechtspflege
einführte und in Folge deſſen die patrimoniale Gerichtsbarkeit der Grundherrn ab-
ſchaffte, ſo ließ er ſich auch nicht abhalten, aus denſelben Gründen und einfach durch
ſeine Verfaſſungs- und Geſetzesreform die patrimoniale Gerichtsbarkeit eines fremden
Landesherrn in ſeinem Lande abzuſchaffen, welche mit jener grundherrlichen Gerichts-
barkeit des einheimiſchen Adels weſentlich identiſch und ganz eben ſo wenig mit den
modernen Grundſätzen der Rechtspflege verträglich iſt. In ähnlicher Weiſe iſt beſonders
ſeit der franzöſiſchen Revolution die vom Mittelalter überlieferte Verflechtung
verſchiedener Landeshoheiten auf demſelben Gebiete
gelöst und ein
einfacheres und gleichmäßigeres Rechtsverhältniß hergeſtellt worden.


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[207/0229] Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit. erhalten werden, inſofern es mit der allgemeinen Entwicklung nicht zugleich fort- dauern kann. Dieſe Entwicklung kann und darf nicht durch Verträge, welche einer andern vergangenen Zeit angehören und damals einen Sinn hatten, der inzwiſchen verloren gegangen iſt, verhindert werden. Denn das hieße die Staten und die Menſchheit an der Erfüllung ihrer Beſtimmung verhindern und das Weſen des Rechts ſelber verderben. In dieſer Weiſe ſind unzählige Statsdienſtbarkeiten, welche im Mittelalter entſtanden waren und damals zu der herrſchenden Lehensverfaſſung paßten, ſeit der Ausbildung des modernen States mit dem Lehensrechte untergegan- gen. Wenn ein Stat in ſeinem Innern Einheit und Gleichheit der Rechtspflege einführte und in Folge deſſen die patrimoniale Gerichtsbarkeit der Grundherrn ab- ſchaffte, ſo ließ er ſich auch nicht abhalten, aus denſelben Gründen und einfach durch ſeine Verfaſſungs- und Geſetzesreform die patrimoniale Gerichtsbarkeit eines fremden Landesherrn in ſeinem Lande abzuſchaffen, welche mit jener grundherrlichen Gerichts- barkeit des einheimiſchen Adels weſentlich identiſch und ganz eben ſo wenig mit den modernen Grundſätzen der Rechtspflege verträglich iſt. In ähnlicher Weiſe iſt beſonders ſeit der franzöſiſchen Revolution die vom Mittelalter überlieferte Verflechtung verſchiedener Landeshoheiten auf demſelben Gebiete gelöst und ein einfacheres und gleichmäßigeres Rechtsverhältniß hergeſtellt worden.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/229>, abgerufen am 30.04.2024.