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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Achtes Buch.
und ihrer Bundesgenossen sich durch eigene Kraft von der feindlichen Herr-
schaft befreit, so kann die frühere Regierung nur mit seiner Zustimmung
nicht gegen seinen Willen in den Besitz eintreten.

Durch diese Selbstbefreiung bewährt sich die statliche Kraft des Volks im
Gegensatze zu der Ohnmacht der Träger der Statsgewalt. Da das öffentliche Recht
wesentlich der Ausdruck der lebendig-politischen Kräfte im Volk ist und sein soll, so ist
das Volk durchaus berechtigt, die Statsverfassung nach der Befreiung neu zu
ordnen
, entsprechend den offenbar gewordenen Verhältnissen, und sich nicht lediglich
durch die Hinweisung auf eine zweifelhaft, weil eine Zeit lang unwirk-
sam, gewordene Legitimität des ältern Rechts
daran verhindern zu
lassen. Freilich üben die aufgeregten Völker in ihrem Eifer für die Herstellung der
angestammten Dynastie in diesem kritischen Moment zuweilen nicht die nöthige
Vorsicht aus für ihre Zukunft. Die Spanische, Italienische und die Deutsche
Geschichte der Befreiung von der Napoleonischen Oberherrschaft 1813 bis 1815
liefern manche Belege für die Wahrheit dieser Bemerkung.

731.

Hat der Feind in der Zwischenzeit nicht bloß Kriegsrecht geübt,
sondern sich eine wirkliche Landesherrschaft angemaßt, und inzwischen be-
hauptet, aber ohne daß dieselbe durch einen Friedensschluß bestätigt und
zu anerkanntem Rechtszustand geworden ist, so wird zwar nach der Ver-
drängung des feindlichen Usurpators der vorherige Rechtszustand erneuert,
aber es können nicht alle einzelnen Regierungsacte des Zwischenherrschers
als ungeschehen betrachtet werden.

Vielmehr bleiben dieselben, soweit sie bloße Verwaltungs- und Ge-
richtsacte sind oder eine privatrechtliche Bedeutung haben, in der Regel in
Kraft. Soweit sie dagegen den Verfassungszustand des Landes ändern
oder einen wesentlich politischen Charakter haben, können sie von der er-
neuerten Statsgewalt für unwirksam erklärt werden.

1. Der Unterschied zwischen politischer Regierung und Verwaltung
im engern Sinn (Administration) muß hier beachtet werden. Auch die poli-
tische Regierung wird inzwischen von der Kriegsgewalt und der Statsgewalt geübt,
welche im Kriege das Land eingenommen hat. Aber die restaurirte recht-
mäßige Landesregierung
, welche andere -- oft geradezu feindliche -- politische
Principien und Richtungen vertritt, ist in keiner Weise an die politischen Anord-
nungen ihres Gegners gebunden. Die Politik ändert sich mit der Aenderung des
entscheidenden Centrums.

2. Dagegen die Verwaltungsacte -- ohne politische Bedeutung --

Achtes Buch.
und ihrer Bundesgenoſſen ſich durch eigene Kraft von der feindlichen Herr-
ſchaft befreit, ſo kann die frühere Regierung nur mit ſeiner Zuſtimmung
nicht gegen ſeinen Willen in den Beſitz eintreten.

Durch dieſe Selbſtbefreiung bewährt ſich die ſtatliche Kraft des Volks im
Gegenſatze zu der Ohnmacht der Träger der Statsgewalt. Da das öffentliche Recht
weſentlich der Ausdruck der lebendig-politiſchen Kräfte im Volk iſt und ſein ſoll, ſo iſt
das Volk durchaus berechtigt, die Statsverfaſſung nach der Befreiung neu zu
ordnen
, entſprechend den offenbar gewordenen Verhältniſſen, und ſich nicht lediglich
durch die Hinweiſung auf eine zweifelhaft, weil eine Zeit lang unwirk-
ſam, gewordene Legitimität des ältern Rechts
daran verhindern zu
laſſen. Freilich üben die aufgeregten Völker in ihrem Eifer für die Herſtellung der
angeſtammten Dynaſtie in dieſem kritiſchen Moment zuweilen nicht die nöthige
Vorſicht aus für ihre Zukunft. Die Spaniſche, Italieniſche und die Deutſche
Geſchichte der Befreiung von der Napoleoniſchen Oberherrſchaft 1813 bis 1815
liefern manche Belege für die Wahrheit dieſer Bemerkung.

731.

Hat der Feind in der Zwiſchenzeit nicht bloß Kriegsrecht geübt,
ſondern ſich eine wirkliche Landesherrſchaft angemaßt, und inzwiſchen be-
hauptet, aber ohne daß dieſelbe durch einen Friedensſchluß beſtätigt und
zu anerkanntem Rechtszuſtand geworden iſt, ſo wird zwar nach der Ver-
drängung des feindlichen Uſurpators der vorherige Rechtszuſtand erneuert,
aber es können nicht alle einzelnen Regierungsacte des Zwiſchenherrſchers
als ungeſchehen betrachtet werden.

Vielmehr bleiben dieſelben, ſoweit ſie bloße Verwaltungs- und Ge-
richtsacte ſind oder eine privatrechtliche Bedeutung haben, in der Regel in
Kraft. Soweit ſie dagegen den Verfaſſungszuſtand des Landes ändern
oder einen weſentlich politiſchen Charakter haben, können ſie von der er-
neuerten Statsgewalt für unwirkſam erklärt werden.

1. Der Unterſchied zwiſchen politiſcher Regierung und Verwaltung
im engern Sinn (Adminiſtration) muß hier beachtet werden. Auch die poli-
tiſche Regierung wird inzwiſchen von der Kriegsgewalt und der Statsgewalt geübt,
welche im Kriege das Land eingenommen hat. Aber die reſtaurirte recht-
mäßige Landesregierung
, welche andere — oft geradezu feindliche — politiſche
Principien und Richtungen vertritt, iſt in keiner Weiſe an die politiſchen Anord-
nungen ihres Gegners gebunden. Die Politik ändert ſich mit der Aenderung des
entſcheidenden Centrums.

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[396/0418] Achtes Buch. und ihrer Bundesgenoſſen ſich durch eigene Kraft von der feindlichen Herr- ſchaft befreit, ſo kann die frühere Regierung nur mit ſeiner Zuſtimmung nicht gegen ſeinen Willen in den Beſitz eintreten. Durch dieſe Selbſtbefreiung bewährt ſich die ſtatliche Kraft des Volks im Gegenſatze zu der Ohnmacht der Träger der Statsgewalt. Da das öffentliche Recht weſentlich der Ausdruck der lebendig-politiſchen Kräfte im Volk iſt und ſein ſoll, ſo iſt das Volk durchaus berechtigt, die Statsverfaſſung nach der Befreiung neu zu ordnen, entſprechend den offenbar gewordenen Verhältniſſen, und ſich nicht lediglich durch die Hinweiſung auf eine zweifelhaft, weil eine Zeit lang unwirk- ſam, gewordene Legitimität des ältern Rechts daran verhindern zu laſſen. Freilich üben die aufgeregten Völker in ihrem Eifer für die Herſtellung der angeſtammten Dynaſtie in dieſem kritiſchen Moment zuweilen nicht die nöthige Vorſicht aus für ihre Zukunft. Die Spaniſche, Italieniſche und die Deutſche Geſchichte der Befreiung von der Napoleoniſchen Oberherrſchaft 1813 bis 1815 liefern manche Belege für die Wahrheit dieſer Bemerkung. 731. Hat der Feind in der Zwiſchenzeit nicht bloß Kriegsrecht geübt, ſondern ſich eine wirkliche Landesherrſchaft angemaßt, und inzwiſchen be- hauptet, aber ohne daß dieſelbe durch einen Friedensſchluß beſtätigt und zu anerkanntem Rechtszuſtand geworden iſt, ſo wird zwar nach der Ver- drängung des feindlichen Uſurpators der vorherige Rechtszuſtand erneuert, aber es können nicht alle einzelnen Regierungsacte des Zwiſchenherrſchers als ungeſchehen betrachtet werden. Vielmehr bleiben dieſelben, ſoweit ſie bloße Verwaltungs- und Ge- richtsacte ſind oder eine privatrechtliche Bedeutung haben, in der Regel in Kraft. Soweit ſie dagegen den Verfaſſungszuſtand des Landes ändern oder einen weſentlich politiſchen Charakter haben, können ſie von der er- neuerten Statsgewalt für unwirkſam erklärt werden. 1. Der Unterſchied zwiſchen politiſcher Regierung und Verwaltung im engern Sinn (Adminiſtration) muß hier beachtet werden. Auch die poli- tiſche Regierung wird inzwiſchen von der Kriegsgewalt und der Statsgewalt geübt, welche im Kriege das Land eingenommen hat. Aber die reſtaurirte recht- mäßige Landesregierung, welche andere — oft geradezu feindliche — politiſche Principien und Richtungen vertritt, iſt in keiner Weiſe an die politiſchen Anord- nungen ihres Gegners gebunden. Die Politik ändert ſich mit der Aenderung des entſcheidenden Centrums. 2. Dagegen die Verwaltungsacte — ohne politiſche Bedeutung —

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/418>, abgerufen am 27.04.2024.