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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.

Sodann ist jedes Individuum ein Glied und Angehöriger einer
Statsgemeinschaft. Insofern ist es allerdings mitbetheiligt bei dem
Streite seines Stats. Das Schicksal des Vaterlandes ist den Kindern des
Landes nicht fremd. Sie nehmen Theil an den Erfolgen und an den
Leiden des States, dem sie angehören. Sie sind auch durch ihre Bürger-
pflicht verbunden, dem State in der Gefahr Beistand zu leisten mit Gut
und Blut. In dem ganzen Bereich des öffentlichen Rechts sind alle
Statsangehörigen dem State verpflichtet.

Aus dieser Unterscheidung ergeben sich folgende Hauptsätze des mo-
dernen Völkerrechts: Die Individuen sind als Privatpersonen
keine Feinde, als Statsangehörige sind sie betheiligt bei der
Feindschaft der Staten
. So weit das Privatrecht maßgebend ist,
dauert also das Friedensverhältniß und das Friedensrecht fort. So
weit das öffentliche Recht entscheidet, ist das Feindesverhältniß ein-
getreten und wirkt das Kriegsrecht.

In Folge dieser Grundsätze sind die Gefahren, welche der Krieg
über die friedliche Bevölkerung herbei zieht, sehr viel geringer geworden.

Im Alterthum waren auch die wehrlosen Personen, die Frauen und
Kinder, in stäter Gefahr, von den feindlichen Kriegern mißhandelt, zu
Sclaven gemacht und verkauft oder getödtet zu werden. Der politische
Verstand der Römer hielt dieselben in den meisten Kriegen ab, von diesem
vermeintlichen Recht einen ausgedehnten Gebrauch zu machen, denn sie
wollten die Völker beherrschen, nicht vertilgen; aber die römischen Rechts-
gelehrten hatten nicht den geringsten Zweifel an dem Rechte zu solchen
Handlungen. Nur die Götter und ihre Tempel gewährten einigen Schutz
vor der Rohheit und dem Blutdurst der stürmenden Krieger; aber auch
dieser Schutz war unsicher und auf sehr enge Gränzen beschränkt.

Auch im Mittelalter gab es keine schützende Rechtsregel. Die eigent-
liche Sclaverei war nicht mehr in den Sitten, außer etwa zum Nach-
theil kriegsgefangener Muhammedaner. Aber die Rohheit war größer als
in dem civilisirteren Römerreiche. Auch friedliche Leute waren der äußersten
Gewaltthat und selbst dem Tode ausgesetzt, wenn der Feind mit Kriegs-
gewalt ihr Land überzog. Der dreißigjährige Krieg noch ist mit allen
Gräueln soldatischer Barbarei befleckt.

Der humane Groot wagt es noch nicht, solcher Missethat das
Brandmal der völkerrechtlichen Verurtheilung aufzudrücken. Im Gegen-
theil, er erkennt noch die völkerrechtliche Erlaubniß dazu an und mißbilligt

Einleitung.

Sodann iſt jedes Individuum ein Glied und Angehöriger einer
Statsgemeinſchaft. Inſofern iſt es allerdings mitbetheiligt bei dem
Streite ſeines Stats. Das Schickſal des Vaterlandes iſt den Kindern des
Landes nicht fremd. Sie nehmen Theil an den Erfolgen und an den
Leiden des States, dem ſie angehören. Sie ſind auch durch ihre Bürger-
pflicht verbunden, dem State in der Gefahr Beiſtand zu leiſten mit Gut
und Blut. In dem ganzen Bereich des öffentlichen Rechts ſind alle
Statsangehörigen dem State verpflichtet.

Aus dieſer Unterſcheidung ergeben ſich folgende Hauptſätze des mo-
dernen Völkerrechts: Die Individuen ſind als Privatperſonen
keine Feinde, als Statsangehörige ſind ſie betheiligt bei der
Feindſchaft der Staten
. So weit das Privatrecht maßgebend iſt,
dauert alſo das Friedensverhältniß und das Friedensrecht fort. So
weit das öffentliche Recht entſcheidet, iſt das Feindesverhältniß ein-
getreten und wirkt das Kriegsrecht.

In Folge dieſer Grundſätze ſind die Gefahren, welche der Krieg
über die friedliche Bevölkerung herbei zieht, ſehr viel geringer geworden.

Im Alterthum waren auch die wehrloſen Perſonen, die Frauen und
Kinder, in ſtäter Gefahr, von den feindlichen Kriegern mißhandelt, zu
Sclaven gemacht und verkauft oder getödtet zu werden. Der politiſche
Verſtand der Römer hielt dieſelben in den meiſten Kriegen ab, von dieſem
vermeintlichen Recht einen ausgedehnten Gebrauch zu machen, denn ſie
wollten die Völker beherrſchen, nicht vertilgen; aber die römiſchen Rechts-
gelehrten hatten nicht den geringſten Zweifel an dem Rechte zu ſolchen
Handlungen. Nur die Götter und ihre Tempel gewährten einigen Schutz
vor der Rohheit und dem Blutdurſt der ſtürmenden Krieger; aber auch
dieſer Schutz war unſicher und auf ſehr enge Gränzen beſchränkt.

Auch im Mittelalter gab es keine ſchützende Rechtsregel. Die eigent-
liche Sclaverei war nicht mehr in den Sitten, außer etwa zum Nach-
theil kriegsgefangener Muhammedaner. Aber die Rohheit war größer als
in dem civiliſirteren Römerreiche. Auch friedliche Leute waren der äußerſten
Gewaltthat und ſelbſt dem Tode ausgeſetzt, wenn der Feind mit Kriegs-
gewalt ihr Land überzog. Der dreißigjährige Krieg noch iſt mit allen
Gräueln ſoldatiſcher Barbarei befleckt.

Der humane Groot wagt es noch nicht, ſolcher Miſſethat das
Brandmal der völkerrechtlichen Verurtheilung aufzudrücken. Im Gegen-
theil, er erkennt noch die völkerrechtliche Erlaubniß dazu an und mißbilligt

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[32/0054] Einleitung. Sodann iſt jedes Individuum ein Glied und Angehöriger einer Statsgemeinſchaft. Inſofern iſt es allerdings mitbetheiligt bei dem Streite ſeines Stats. Das Schickſal des Vaterlandes iſt den Kindern des Landes nicht fremd. Sie nehmen Theil an den Erfolgen und an den Leiden des States, dem ſie angehören. Sie ſind auch durch ihre Bürger- pflicht verbunden, dem State in der Gefahr Beiſtand zu leiſten mit Gut und Blut. In dem ganzen Bereich des öffentlichen Rechts ſind alle Statsangehörigen dem State verpflichtet. Aus dieſer Unterſcheidung ergeben ſich folgende Hauptſätze des mo- dernen Völkerrechts: Die Individuen ſind als Privatperſonen keine Feinde, als Statsangehörige ſind ſie betheiligt bei der Feindſchaft der Staten. So weit das Privatrecht maßgebend iſt, dauert alſo das Friedensverhältniß und das Friedensrecht fort. So weit das öffentliche Recht entſcheidet, iſt das Feindesverhältniß ein- getreten und wirkt das Kriegsrecht. In Folge dieſer Grundſätze ſind die Gefahren, welche der Krieg über die friedliche Bevölkerung herbei zieht, ſehr viel geringer geworden. Im Alterthum waren auch die wehrloſen Perſonen, die Frauen und Kinder, in ſtäter Gefahr, von den feindlichen Kriegern mißhandelt, zu Sclaven gemacht und verkauft oder getödtet zu werden. Der politiſche Verſtand der Römer hielt dieſelben in den meiſten Kriegen ab, von dieſem vermeintlichen Recht einen ausgedehnten Gebrauch zu machen, denn ſie wollten die Völker beherrſchen, nicht vertilgen; aber die römiſchen Rechts- gelehrten hatten nicht den geringſten Zweifel an dem Rechte zu ſolchen Handlungen. Nur die Götter und ihre Tempel gewährten einigen Schutz vor der Rohheit und dem Blutdurſt der ſtürmenden Krieger; aber auch dieſer Schutz war unſicher und auf ſehr enge Gränzen beſchränkt. Auch im Mittelalter gab es keine ſchützende Rechtsregel. Die eigent- liche Sclaverei war nicht mehr in den Sitten, außer etwa zum Nach- theil kriegsgefangener Muhammedaner. Aber die Rohheit war größer als in dem civiliſirteren Römerreiche. Auch friedliche Leute waren der äußerſten Gewaltthat und ſelbſt dem Tode ausgeſetzt, wenn der Feind mit Kriegs- gewalt ihr Land überzog. Der dreißigjährige Krieg noch iſt mit allen Gräueln ſoldatiſcher Barbarei befleckt. Der humane Groot wagt es noch nicht, ſolcher Miſſethat das Brandmal der völkerrechtlichen Verurtheilung aufzudrücken. Im Gegen- theil, er erkennt noch die völkerrechtliche Erlaubniß dazu an und mißbilligt

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/54>, abgerufen am 27.04.2024.