Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 6. Zürich, 1742.

Bild:
<< vorherige Seite

Echo
Entdeckung der Unvollkommenheiten eines Schrift-
stellers geschäftig und scharfsichtig ist, schon für
sich selbs strafbar, und sie können nicht glauben,
daß ein wohlgezogenes, sittsames und beschei-
denes Gemüthe sich jemahls die Freyheit andere
zu tadeln anmassen könne, es geschehe denn mit
bösen Absichten. Die Grundsätze, womit sie
diese stoltzen Gedancken zu beschönen suchen, sind
folgende: Man sey nicht berechtiget, jemand zu
tadeln, oder ihm seine Unvollkommenheiten vorzu-
rücken, bis man selbs ohne Fehler sey; die christ-
liche Liebe decke die Fehler des Nächsten zu, u. s. f.
Und dadurch meinen sie die Critick als eine Un-
gerechtigkeit, die gerade gegen die Pflichten der
Liebe anläuft, anzuschwärtzen, und verhaßt zu
machen. Andere hingegen erkennen zwar, daß
die Critick bey Entdeckung anderer Leute Fehler
und Unvollkommenheiten gantz heilsame Absich-
ten haben könne, und daß sie zur Warnung und
Verbesserung solcher, die sich erst durch offent-
liche Schriften beliebt und nützlich zu machen su-
chen, einen guten Einfluß haben könne: dessen
ungeachtet setzen sie dieselbe in der Ausübung ih-
res Strafamts in so enge Schrancken, daß sie
dennoch bey diesem zugestandenen Recht der Cri-
tick ungestraft und sicher fortschwärmen können.
Sie entziehen sich, und alle, die den Athem
noch in der Nase haben, ihrem Gerichtsbann,
und geben ihr allein die todten und vermoderten
Scribenten Preis. (*) Sie bereden sich, daß

man
(*) Die Gottschedischen Schüler haben als ein Funda-
mental-Gesetze der critischen Gefälligkeit auf und angenom-
men,

Echo
Entdeckung der Unvollkom̃enheiten eines Schrift-
ſtellers geſchaͤftig und ſcharfſichtig iſt, ſchon fuͤr
ſich ſelbs ſtrafbar, und ſie koͤnnen nicht glauben,
daß ein wohlgezogenes, ſittſames und beſchei-
denes Gemuͤthe ſich jemahls die Freyheit andere
zu tadeln anmaſſen koͤnne, es geſchehe denn mit
boͤſen Abſichten. Die Grundſaͤtze, womit ſie
dieſe ſtoltzen Gedancken zu beſchoͤnen ſuchen, ſind
folgende: Man ſey nicht berechtiget, jemand zu
tadeln, oder ihm ſeine Unvollkommenheiten vorzu-
ruͤcken, bis man ſelbs ohne Fehler ſey; die chriſt-
liche Liebe decke die Fehler des Naͤchſten zu, u. ſ. f.
Und dadurch meinen ſie die Critick als eine Un-
gerechtigkeit, die gerade gegen die Pflichten der
Liebe anlaͤuft, anzuſchwaͤrtzen, und verhaßt zu
machen. Andere hingegen erkennen zwar, daß
die Critick bey Entdeckung anderer Leute Fehler
und Unvollkommenheiten gantz heilſame Abſich-
ten haben koͤnne, und daß ſie zur Warnung und
Verbeſſerung ſolcher, die ſich erſt durch offent-
liche Schriften beliebt und nuͤtzlich zu machen ſu-
chen, einen guten Einfluß haben koͤnne: deſſen
ungeachtet ſetzen ſie dieſelbe in der Ausuͤbung ih-
res Strafamts in ſo enge Schrancken, daß ſie
dennoch bey dieſem zugeſtandenen Recht der Cri-
tick ungeſtraft und ſicher fortſchwaͤrmen koͤnnen.
Sie entziehen ſich, und alle, die den Athem
noch in der Naſe haben, ihrem Gerichtsbann,
und geben ihr allein die todten und vermoderten
Scribenten Preis. (*) Sie bereden ſich, daß

man
(*) Die Gottſchediſchen Schuͤler haben als ein Funda-
mental-Geſetze der critiſchen Gefaͤlligkeit auf und angenom-
men,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0036" n="36"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Echo</hi></hi></fw><lb/>
Entdeckung der Unvollkom&#x0303;enheiten eines Schrift-<lb/>
&#x017F;tellers ge&#x017F;cha&#x0364;ftig und &#x017F;charf&#x017F;ichtig i&#x017F;t, &#x017F;chon fu&#x0364;r<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elbs &#x017F;trafbar, und &#x017F;ie ko&#x0364;nnen nicht glauben,<lb/>
daß ein wohlgezogenes, &#x017F;itt&#x017F;ames und be&#x017F;chei-<lb/>
denes Gemu&#x0364;the &#x017F;ich jemahls die Freyheit andere<lb/>
zu tadeln anma&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nne, es ge&#x017F;chehe denn mit<lb/>
bo&#x0364;&#x017F;en Ab&#x017F;ichten. Die Grund&#x017F;a&#x0364;tze, womit &#x017F;ie<lb/>
die&#x017F;e &#x017F;toltzen Gedancken zu be&#x017F;cho&#x0364;nen &#x017F;uchen, &#x017F;ind<lb/>
folgende: Man &#x017F;ey nicht berechtiget, jemand zu<lb/>
tadeln, oder ihm &#x017F;eine Unvollkommenheiten vorzu-<lb/>
ru&#x0364;cken, bis man &#x017F;elbs ohne Fehler &#x017F;ey; die chri&#x017F;t-<lb/>
liche Liebe decke die Fehler des Na&#x0364;ch&#x017F;ten zu, u. &#x017F;. f.<lb/>
Und dadurch meinen &#x017F;ie die Critick als eine Un-<lb/>
gerechtigkeit, die gerade gegen die Pflichten der<lb/>
Liebe anla&#x0364;uft, anzu&#x017F;chwa&#x0364;rtzen, und verhaßt zu<lb/>
machen. Andere hingegen erkennen zwar, daß<lb/>
die Critick bey Entdeckung anderer Leute Fehler<lb/>
und Unvollkommenheiten gantz heil&#x017F;ame Ab&#x017F;ich-<lb/>
ten haben ko&#x0364;nne, und daß &#x017F;ie zur Warnung und<lb/>
Verbe&#x017F;&#x017F;erung &#x017F;olcher, die &#x017F;ich er&#x017F;t durch offent-<lb/>
liche Schriften beliebt und nu&#x0364;tzlich zu machen &#x017F;u-<lb/>
chen, einen guten Einfluß haben ko&#x0364;nne: de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
ungeachtet &#x017F;etzen &#x017F;ie die&#x017F;elbe in der Ausu&#x0364;bung ih-<lb/>
res Strafamts in &#x017F;o enge Schrancken, daß &#x017F;ie<lb/>
dennoch bey die&#x017F;em zuge&#x017F;tandenen Recht der Cri-<lb/>
tick unge&#x017F;traft und &#x017F;icher fort&#x017F;chwa&#x0364;rmen ko&#x0364;nnen.<lb/>
Sie entziehen &#x017F;ich, und alle, die den Athem<lb/>
noch in der Na&#x017F;e haben, ihrem Gerichtsbann,<lb/>
und geben ihr allein die todten und vermoderten<lb/>
Scribenten Preis. <note xml:id="f14" next="#f15" place="foot" n="(*)">Die Gott&#x017F;chedi&#x017F;chen Schu&#x0364;ler haben als ein Funda-<lb/>
mental-Ge&#x017F;etze der criti&#x017F;chen Gefa&#x0364;lligkeit auf und angenom-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">men,</fw></note> Sie bereden &#x017F;ich, daß<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">man</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0036] Echo Entdeckung der Unvollkom̃enheiten eines Schrift- ſtellers geſchaͤftig und ſcharfſichtig iſt, ſchon fuͤr ſich ſelbs ſtrafbar, und ſie koͤnnen nicht glauben, daß ein wohlgezogenes, ſittſames und beſchei- denes Gemuͤthe ſich jemahls die Freyheit andere zu tadeln anmaſſen koͤnne, es geſchehe denn mit boͤſen Abſichten. Die Grundſaͤtze, womit ſie dieſe ſtoltzen Gedancken zu beſchoͤnen ſuchen, ſind folgende: Man ſey nicht berechtiget, jemand zu tadeln, oder ihm ſeine Unvollkommenheiten vorzu- ruͤcken, bis man ſelbs ohne Fehler ſey; die chriſt- liche Liebe decke die Fehler des Naͤchſten zu, u. ſ. f. Und dadurch meinen ſie die Critick als eine Un- gerechtigkeit, die gerade gegen die Pflichten der Liebe anlaͤuft, anzuſchwaͤrtzen, und verhaßt zu machen. Andere hingegen erkennen zwar, daß die Critick bey Entdeckung anderer Leute Fehler und Unvollkommenheiten gantz heilſame Abſich- ten haben koͤnne, und daß ſie zur Warnung und Verbeſſerung ſolcher, die ſich erſt durch offent- liche Schriften beliebt und nuͤtzlich zu machen ſu- chen, einen guten Einfluß haben koͤnne: deſſen ungeachtet ſetzen ſie dieſelbe in der Ausuͤbung ih- res Strafamts in ſo enge Schrancken, daß ſie dennoch bey dieſem zugeſtandenen Recht der Cri- tick ungeſtraft und ſicher fortſchwaͤrmen koͤnnen. Sie entziehen ſich, und alle, die den Athem noch in der Naſe haben, ihrem Gerichtsbann, und geben ihr allein die todten und vermoderten Scribenten Preis. (*) Sie bereden ſich, daß man (*) Die Gottſchediſchen Schuͤler haben als ein Funda- mental-Geſetze der critiſchen Gefaͤlligkeit auf und angenom- men,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung06_1742
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung06_1742/36
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 6. Zürich, 1742, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung06_1742/36>, abgerufen am 19.04.2024.