Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Boeheim, Wendelin: Handbuch der Waffenkunde. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Harnisch für den Mann in seiner Gesamtheit.
ganzen Wesen, tritt in dem Reiterharnisch auf, wie sich dieser vom
Anfange des Jahrhunderts herausgebildet hatte. Die Umbildungen
desselben waren unwesentlich, es war schon ein Grosses, dass der
ritterliche Mann die Schallern willig annahm, weil ihm die Becken-
haube unbequem wurde. Zum Schutze des Gesichtes fügte er den
Bart hinzu, der, an das Bruststück angeschraubt oder um den Hals
geschnallt, dasselbe bis zu den Augen deckte. Diese Form findet
sich vorwiegend in Frankreich und Deutschland. In Italien, woselbst
die Renaissance schon ein Jahrhundert früher die Formen beein-
flusste, treten auch andere Kopfbedeckungen auf, die in ihrer Gestalt
sich mehr an die Antike anlehnen. (Fig. 161 und 162.)

Um 1470 ist der ritterliche Harnisch mit Schallern in seiner
ganzen Erscheinung ein Muster von Ebenmass und Eleganz. Weder
vorher noch später wurden die Anforderungen an Schönheit und an
eine geschmackvolle Ausführung so voll erreicht, als in dieser Zeit,
die als der Höhepunkt des Plattnerwesens bezeichnet werden kann.
Was später Anspruch auf Bewunderung machen kann, ist nur eine
zuweilen staunenswerte dekorative Auszierung, nicht aber die Gesamt-
form, der Zuschnitt und das Verhältnis der einzelnen Teile.
(Fig. 163.)

Man nennt heute diese Harnische, gewiss durch einzelne Detail-
formen veranlasst, die den Stil des Mittelalters erkennen lassen,
"gothische". Die Form jedoch ist der italienischen und speziell floren-
tinischen Tracht entlehnt, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts
als Mode ihren Rundgang über alle Welt machte und allenthalben
als Hoftracht üblich wurde.

Um diese Zeit hatte sich eine bedeutende Veränderung im
Heereswesen ergeben. Aus dem alten Lehensheere war allmählich
das Söldnerheer entstanden, geworbene Truppen; eine Veränderung,
der die Ritterschaft anfänglich fremd gegenüberstand. Die Art der
Bildung musste naturgemäss Berufsleute heranziehen, die ihre Aus-
rüstung und Bewaffnung vom Gesichtspunkte ihrer Fechtweise, ihrer
Gewohnheiten, ihrer Erfahrung und auch des Geschmackes ihres hoch-
gehaltenen Standes betrachteten. Blieb auch anfänglich das Werbe-
system auf die Fusstruppe und das Geschützwesen beschränkt, so
bewirkte doch das moralische Gewicht, das diese zahlreichen Scharen
in die Wagschale warfen, eine vollständige Umformung ihrer Aus-
rüstung. Damit scheidet sich von dem ritterlichen oder reisigen der
knechtische oder Fussknechtharnisch ab, die beide in ihren Formen
wesentliche Verschiedenheiten erkennen lassen.

Die ersten Anfänge der Bildung eines Harnischtypus für den
Fussknecht sind in Italien schon im 14. Jahrhundert merkbar. Für sich
entwickelt sich dieses Bestreben unter den Schweizern, in denen das
Berufsgefühl ungemein rege war und deren eigene Fechtweise auch
eine ganz eigenartige Ausrüstung in Harnisch und Handwaffe erforderte;

Der Harnisch für den Mann in seiner Gesamtheit.
ganzen Wesen, tritt in dem Reiterharnisch auf, wie sich dieser vom
Anfange des Jahrhunderts herausgebildet hatte. Die Umbildungen
desselben waren unwesentlich, es war schon ein Groſses, daſs der
ritterliche Mann die Schallern willig annahm, weil ihm die Becken-
haube unbequem wurde. Zum Schutze des Gesichtes fügte er den
Bart hinzu, der, an das Bruststück angeschraubt oder um den Hals
geschnallt, dasselbe bis zu den Augen deckte. Diese Form findet
sich vorwiegend in Frankreich und Deutschland. In Italien, woselbst
die Renaissance schon ein Jahrhundert früher die Formen beein-
fluſste, treten auch andere Kopfbedeckungen auf, die in ihrer Gestalt
sich mehr an die Antike anlehnen. (Fig. 161 und 162.)

Um 1470 ist der ritterliche Harnisch mit Schallern in seiner
ganzen Erscheinung ein Muster von Ebenmaſs und Eleganz. Weder
vorher noch später wurden die Anforderungen an Schönheit und an
eine geschmackvolle Ausführung so voll erreicht, als in dieser Zeit,
die als der Höhepunkt des Plattnerwesens bezeichnet werden kann.
Was später Anspruch auf Bewunderung machen kann, ist nur eine
zuweilen staunenswerte dekorative Auszierung, nicht aber die Gesamt-
form, der Zuschnitt und das Verhältnis der einzelnen Teile.
(Fig. 163.)

Man nennt heute diese Harnische, gewiſs durch einzelne Detail-
formen veranlaſst, die den Stil des Mittelalters erkennen lassen,
„gothische“. Die Form jedoch ist der italienischen und speziell floren-
tinischen Tracht entlehnt, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts
als Mode ihren Rundgang über alle Welt machte und allenthalben
als Hoftracht üblich wurde.

Um diese Zeit hatte sich eine bedeutende Veränderung im
Heereswesen ergeben. Aus dem alten Lehensheere war allmählich
das Söldnerheer entstanden, geworbene Truppen; eine Veränderung,
der die Ritterschaft anfänglich fremd gegenüberstand. Die Art der
Bildung muſste naturgemäſs Berufsleute heranziehen, die ihre Aus-
rüstung und Bewaffnung vom Gesichtspunkte ihrer Fechtweise, ihrer
Gewohnheiten, ihrer Erfahrung und auch des Geschmackes ihres hoch-
gehaltenen Standes betrachteten. Blieb auch anfänglich das Werbe-
system auf die Fuſstruppe und das Geschützwesen beschränkt, so
bewirkte doch das moralische Gewicht, das diese zahlreichen Scharen
in die Wagschale warfen, eine vollständige Umformung ihrer Aus-
rüstung. Damit scheidet sich von dem ritterlichen oder reisigen der
knechtische oder Fuſsknechtharnisch ab, die beide in ihren Formen
wesentliche Verschiedenheiten erkennen lassen.

Die ersten Anfänge der Bildung eines Harnischtypus für den
Fuſsknecht sind in Italien schon im 14. Jahrhundert merkbar. Für sich
entwickelt sich dieses Bestreben unter den Schweizern, in denen das
Berufsgefühl ungemein rege war und deren eigene Fechtweise auch
eine ganz eigenartige Ausrüstung in Harnisch und Handwaffe erforderte;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0167" n="149"/><fw place="top" type="header">Der Harnisch für den Mann in seiner Gesamtheit.</fw><lb/>
ganzen Wesen, tritt in dem Reiterharnisch auf, wie sich dieser vom<lb/>
Anfange des Jahrhunderts herausgebildet hatte. Die Umbildungen<lb/>
desselben waren unwesentlich, es war schon ein Gro&#x017F;ses, da&#x017F;s der<lb/>
ritterliche Mann die Schallern willig annahm, weil ihm die Becken-<lb/>
haube unbequem wurde. Zum Schutze des Gesichtes fügte er den<lb/>
Bart hinzu, der, an das Bruststück angeschraubt oder um den Hals<lb/>
geschnallt, dasselbe bis zu den Augen deckte. Diese Form findet<lb/>
sich vorwiegend in Frankreich und Deutschland. In Italien, woselbst<lb/>
die Renaissance schon ein Jahrhundert früher die Formen beein-<lb/>
flu&#x017F;ste, treten auch andere Kopfbedeckungen auf, die in ihrer Gestalt<lb/>
sich mehr an die Antike anlehnen. (Fig. 161 und 162.)</p><lb/>
            <p>Um 1470 ist der ritterliche Harnisch mit Schallern in seiner<lb/>
ganzen Erscheinung ein Muster von Ebenma&#x017F;s und Eleganz. Weder<lb/>
vorher noch später wurden die Anforderungen an Schönheit und an<lb/>
eine geschmackvolle Ausführung so voll erreicht, als in dieser Zeit,<lb/>
die als der Höhepunkt des Plattnerwesens bezeichnet werden kann.<lb/>
Was später Anspruch auf Bewunderung machen kann, ist nur eine<lb/>
zuweilen staunenswerte dekorative Auszierung, nicht aber die Gesamt-<lb/>
form, der Zuschnitt und das Verhältnis der einzelnen Teile.<lb/>
(Fig. 163.)</p><lb/>
            <p>Man nennt heute diese Harnische, gewi&#x017F;s durch einzelne Detail-<lb/>
formen veranla&#x017F;st, die den Stil des Mittelalters erkennen lassen,<lb/>
&#x201E;gothische&#x201C;. Die Form jedoch ist der italienischen und speziell floren-<lb/>
tinischen Tracht entlehnt, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts<lb/>
als Mode ihren Rundgang über alle Welt machte und allenthalben<lb/>
als Hoftracht üblich wurde.</p><lb/>
            <p>Um diese Zeit hatte sich eine bedeutende Veränderung im<lb/>
Heereswesen ergeben. Aus dem alten Lehensheere war allmählich<lb/>
das Söldnerheer entstanden, geworbene Truppen; eine Veränderung,<lb/>
der die Ritterschaft anfänglich fremd gegenüberstand. Die Art der<lb/>
Bildung mu&#x017F;ste naturgemä&#x017F;s Berufsleute heranziehen, die ihre Aus-<lb/>
rüstung und Bewaffnung vom Gesichtspunkte ihrer Fechtweise, ihrer<lb/>
Gewohnheiten, ihrer Erfahrung und auch des Geschmackes ihres hoch-<lb/>
gehaltenen Standes betrachteten. Blieb auch anfänglich das Werbe-<lb/>
system auf die Fu&#x017F;struppe und das Geschützwesen beschränkt, so<lb/>
bewirkte doch das moralische Gewicht, das diese zahlreichen Scharen<lb/>
in die Wagschale warfen, eine vollständige Umformung ihrer Aus-<lb/>
rüstung. Damit scheidet sich von dem ritterlichen oder reisigen der<lb/>
knechtische oder Fu&#x017F;sknechtharnisch ab, die beide in ihren Formen<lb/>
wesentliche Verschiedenheiten erkennen lassen.</p><lb/>
            <p>Die ersten Anfänge der Bildung eines Harnischtypus für den<lb/>
Fu&#x017F;sknecht sind in Italien schon im 14. Jahrhundert merkbar. Für sich<lb/>
entwickelt sich dieses Bestreben unter den Schweizern, in denen das<lb/>
Berufsgefühl ungemein rege war und deren eigene Fechtweise auch<lb/>
eine ganz eigenartige Ausrüstung in Harnisch und Handwaffe erforderte;<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[149/0167] Der Harnisch für den Mann in seiner Gesamtheit. ganzen Wesen, tritt in dem Reiterharnisch auf, wie sich dieser vom Anfange des Jahrhunderts herausgebildet hatte. Die Umbildungen desselben waren unwesentlich, es war schon ein Groſses, daſs der ritterliche Mann die Schallern willig annahm, weil ihm die Becken- haube unbequem wurde. Zum Schutze des Gesichtes fügte er den Bart hinzu, der, an das Bruststück angeschraubt oder um den Hals geschnallt, dasselbe bis zu den Augen deckte. Diese Form findet sich vorwiegend in Frankreich und Deutschland. In Italien, woselbst die Renaissance schon ein Jahrhundert früher die Formen beein- fluſste, treten auch andere Kopfbedeckungen auf, die in ihrer Gestalt sich mehr an die Antike anlehnen. (Fig. 161 und 162.) Um 1470 ist der ritterliche Harnisch mit Schallern in seiner ganzen Erscheinung ein Muster von Ebenmaſs und Eleganz. Weder vorher noch später wurden die Anforderungen an Schönheit und an eine geschmackvolle Ausführung so voll erreicht, als in dieser Zeit, die als der Höhepunkt des Plattnerwesens bezeichnet werden kann. Was später Anspruch auf Bewunderung machen kann, ist nur eine zuweilen staunenswerte dekorative Auszierung, nicht aber die Gesamt- form, der Zuschnitt und das Verhältnis der einzelnen Teile. (Fig. 163.) Man nennt heute diese Harnische, gewiſs durch einzelne Detail- formen veranlaſst, die den Stil des Mittelalters erkennen lassen, „gothische“. Die Form jedoch ist der italienischen und speziell floren- tinischen Tracht entlehnt, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts als Mode ihren Rundgang über alle Welt machte und allenthalben als Hoftracht üblich wurde. Um diese Zeit hatte sich eine bedeutende Veränderung im Heereswesen ergeben. Aus dem alten Lehensheere war allmählich das Söldnerheer entstanden, geworbene Truppen; eine Veränderung, der die Ritterschaft anfänglich fremd gegenüberstand. Die Art der Bildung muſste naturgemäſs Berufsleute heranziehen, die ihre Aus- rüstung und Bewaffnung vom Gesichtspunkte ihrer Fechtweise, ihrer Gewohnheiten, ihrer Erfahrung und auch des Geschmackes ihres hoch- gehaltenen Standes betrachteten. Blieb auch anfänglich das Werbe- system auf die Fuſstruppe und das Geschützwesen beschränkt, so bewirkte doch das moralische Gewicht, das diese zahlreichen Scharen in die Wagschale warfen, eine vollständige Umformung ihrer Aus- rüstung. Damit scheidet sich von dem ritterlichen oder reisigen der knechtische oder Fuſsknechtharnisch ab, die beide in ihren Formen wesentliche Verschiedenheiten erkennen lassen. Die ersten Anfänge der Bildung eines Harnischtypus für den Fuſsknecht sind in Italien schon im 14. Jahrhundert merkbar. Für sich entwickelt sich dieses Bestreben unter den Schweizern, in denen das Berufsgefühl ungemein rege war und deren eigene Fechtweise auch eine ganz eigenartige Ausrüstung in Harnisch und Handwaffe erforderte;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boeheim_waffenkunde_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boeheim_waffenkunde_1890/167
Zitationshilfe: Boeheim, Wendelin: Handbuch der Waffenkunde. Leipzig, 1890, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boeheim_waffenkunde_1890/167>, abgerufen am 29.04.2024.