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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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kraft seiner Gesetze entwickelungsschwangeren anorganischen Roh¬
stoff heraus.

Diesen Gegensatz mußt du ganz in dich aufnehmen, um
von Grund aus zu begreifen, was die Hypothese der Ur¬
zeugung im wissenschaftlichen Sinne eigentlich will und not¬
wendig wollen muß. Um den mystischen Gewaltakt mit seiner
motivlosen Plötzlichkeit zu beseitigen, muß sie selbst von Anfang
an konsequent in den Bann der Entwickelungsidee treten.
Die Urzeugung darf unter keinen Umständen einen Sprung
darstellen: sie muß eine Brücke sein.

Sobald über diesen Punkt eine klare Gedankenverständigung
eintritt, verliert, meine ich, die Urzeugungsfrage sehr viel von
ihrem Fremdartigen. Sie wird unvergleichlich beweglicher, wird
ein offenes Thor des weiteren Denkens anstatt eines Riegels.
Und das kommt auch unserm Liebesproblem aufs beste zu nutze.

Denke dir das Folgende einmal möglichst klar durch.

Sage ich: Anorganisches, lebloser und lebensfremder Stoff
wurde eines Tages plötzlich zum Bazillus, zur lebenden Zelle,
so ist das ein Sprung. Die beiden Sachen sind bei solcher
Definition extrem verschieden. Ich aber setze einen Akt, der die
eine zur andern "macht". Das ist und bleibt ein Gewaltakt.

Anders aber so. Ich sage: der Bazillus hat sich aus
dem Anorganischen, das noch nicht Bazillus war, "entwickelt".
Damit setze ich von vorne herein etwas Verwandtes in beiden
voraus. Das Anorganische konnte Bazillus werden. Es mußte
also die Bedingungen dazu schon in sich tragen, genau so, wie
der Bazillus niemals hätte Mensch werden können, wenn er
nicht etwas innerlich diesem Menschen Verwandtes, etwas auf
diesen Menschen Hinleitendes schon in sich trüge. Läßt unser
Satz nach der einen Seite den Bazillus aus dem Anorganischen
naturgemäß heraussteigen, so trägt er notwendig auf der andern
Seite gewisse Voraussetzungen dieser Bazillus-Existenz -- also
Voraussetzungen des Lebens! -- in das Anorganische selber
hinein. Damit Leben in der Form, wie der Bazillus es auf¬

kraft ſeiner Geſetze entwickelungsſchwangeren anorganiſchen Roh¬
ſtoff heraus.

Dieſen Gegenſatz mußt du ganz in dich aufnehmen, um
von Grund aus zu begreifen, was die Hypotheſe der Ur¬
zeugung im wiſſenſchaftlichen Sinne eigentlich will und not¬
wendig wollen muß. Um den myſtiſchen Gewaltakt mit ſeiner
motivloſen Plötzlichkeit zu beſeitigen, muß ſie ſelbſt von Anfang
an konſequent in den Bann der Entwickelungsidee treten.
Die Urzeugung darf unter keinen Umſtänden einen Sprung
darſtellen: ſie muß eine Brücke ſein.

Sobald über dieſen Punkt eine klare Gedankenverſtändigung
eintritt, verliert, meine ich, die Urzeugungsfrage ſehr viel von
ihrem Fremdartigen. Sie wird unvergleichlich beweglicher, wird
ein offenes Thor des weiteren Denkens anſtatt eines Riegels.
Und das kommt auch unſerm Liebesproblem aufs beſte zu nutze.

Denke dir das Folgende einmal möglichſt klar durch.

Sage ich: Anorganiſches, lebloſer und lebensfremder Stoff
wurde eines Tages plötzlich zum Bazillus, zur lebenden Zelle,
ſo iſt das ein Sprung. Die beiden Sachen ſind bei ſolcher
Definition extrem verſchieden. Ich aber ſetze einen Akt, der die
eine zur andern „macht“. Das iſt und bleibt ein Gewaltakt.

Anders aber ſo. Ich ſage: der Bazillus hat ſich aus
dem Anorganiſchen, das noch nicht Bazillus war, „entwickelt“.
Damit ſetze ich von vorne herein etwas Verwandtes in beiden
voraus. Das Anorganiſche konnte Bazillus werden. Es mußte
alſo die Bedingungen dazu ſchon in ſich tragen, genau ſo, wie
der Bazillus niemals hätte Menſch werden können, wenn er
nicht etwas innerlich dieſem Menſchen Verwandtes, etwas auf
dieſen Menſchen Hinleitendes ſchon in ſich trüge. Läßt unſer
Satz nach der einen Seite den Bazillus aus dem Anorganiſchen
naturgemäß herausſteigen, ſo trägt er notwendig auf der andern
Seite gewiſſe Vorausſetzungen dieſer Bazillus-Exiſtenz — alſo
Vorausſetzungen des Lebens! — in das Anorganiſche ſelber
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[109/0125] kraft ſeiner Geſetze entwickelungsſchwangeren anorganiſchen Roh¬ ſtoff heraus. Dieſen Gegenſatz mußt du ganz in dich aufnehmen, um von Grund aus zu begreifen, was die Hypotheſe der Ur¬ zeugung im wiſſenſchaftlichen Sinne eigentlich will und not¬ wendig wollen muß. Um den myſtiſchen Gewaltakt mit ſeiner motivloſen Plötzlichkeit zu beſeitigen, muß ſie ſelbſt von Anfang an konſequent in den Bann der Entwickelungsidee treten. Die Urzeugung darf unter keinen Umſtänden einen Sprung darſtellen: ſie muß eine Brücke ſein. Sobald über dieſen Punkt eine klare Gedankenverſtändigung eintritt, verliert, meine ich, die Urzeugungsfrage ſehr viel von ihrem Fremdartigen. Sie wird unvergleichlich beweglicher, wird ein offenes Thor des weiteren Denkens anſtatt eines Riegels. Und das kommt auch unſerm Liebesproblem aufs beſte zu nutze. Denke dir das Folgende einmal möglichſt klar durch. Sage ich: Anorganiſches, lebloſer und lebensfremder Stoff wurde eines Tages plötzlich zum Bazillus, zur lebenden Zelle, ſo iſt das ein Sprung. Die beiden Sachen ſind bei ſolcher Definition extrem verſchieden. Ich aber ſetze einen Akt, der die eine zur andern „macht“. Das iſt und bleibt ein Gewaltakt. Anders aber ſo. Ich ſage: der Bazillus hat ſich aus dem Anorganiſchen, das noch nicht Bazillus war, „entwickelt“. Damit ſetze ich von vorne herein etwas Verwandtes in beiden voraus. Das Anorganiſche konnte Bazillus werden. Es mußte alſo die Bedingungen dazu ſchon in ſich tragen, genau ſo, wie der Bazillus niemals hätte Menſch werden können, wenn er nicht etwas innerlich dieſem Menſchen Verwandtes, etwas auf dieſen Menſchen Hinleitendes ſchon in ſich trüge. Läßt unſer Satz nach der einen Seite den Bazillus aus dem Anorganiſchen naturgemäß herausſteigen, ſo trägt er notwendig auf der andern Seite gewiſſe Vorausſetzungen dieſer Bazillus-Exiſtenz — alſo Vorausſetzungen des Lebens! — in das Anorganiſche ſelber hinein. Damit Leben in der Form, wie der Bazillus es auf¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/125>, abgerufen am 02.05.2024.