Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

Bild:
<< vorherige Seite
"Sag' uns, Vater, wo wir wallen,
Sag' uns, Guter, wer wir sind?
Glücklich sind wir, allen allen
Ist das Dasein so gelind."
Aus Goethes Faust.

Ich will dich einen Augenblick beim Polypen festhalten.
Nur einen Augenblick, -- aber wie ich hoffe, einen lehrreichen.
Beim Polypen und seiner Gefolgschaft.

Ich kann dir hier gleich einen Irrtum nehmen, der unsere
ganze weitere Liebesplauderei sonst langweilig zu machen drohte.

Der kleine grüne Süßwasserpolyp an seinem Linsenblatte
da unten -- und du, homo sapiens, höchster Sproß des Affen¬
stammes an der Spitze der obersten Wirbeltiere: ihr beide habt
bis zur guten Gasträa, diesem schwimmenden Urbauch, die
gleichen ältesten Ahnen. Und da das biogenetische Grundgesetz
für euch beide gilt, so ist auch euer Einzelursprung als Indi¬
viduum sich bis zu einer gewissen Stufe mindestens sehr ähnlich.
Mannesorgan und Weibesorgan, Samenzelle geht auf Eizelle,
das befruchtete Ei spaltet sich, es entsteht ein Zellhaufen und
so weiter, -- hier zum Polypchen, dort zu dir. Und so und
nicht anders ist's ja nun nicht bloß bei Polyp und Mensch,
sondern auch bei Wurm und Krebs, Spinne und Käfer, See¬
stern und Auster, Tintenfisch und wirklichem Fisch, Frosch und
Vogel. Und der Einwurf regt sich: ja sollte nun nicht die

„Sag' uns, Vater, wo wir wallen,
Sag' uns, Guter, wer wir ſind?
Glücklich ſind wir, allen allen
Iſt das Daſein ſo gelind.“
Aus Goethes Fauſt.

Ich will dich einen Augenblick beim Polypen feſthalten.
Nur einen Augenblick, — aber wie ich hoffe, einen lehrreichen.
Beim Polypen und ſeiner Gefolgſchaft.

Ich kann dir hier gleich einen Irrtum nehmen, der unſere
ganze weitere Liebesplauderei ſonſt langweilig zu machen drohte.

Der kleine grüne Süßwaſſerpolyp an ſeinem Linſenblatte
da unten — und du, homo sapiens, höchſter Sproß des Affen¬
ſtammes an der Spitze der oberſten Wirbeltiere: ihr beide habt
bis zur guten Gaſträa, dieſem ſchwimmenden Urbauch, die
gleichen älteſten Ahnen. Und da das biogenetiſche Grundgeſetz
für euch beide gilt, ſo iſt auch euer Einzelurſprung als Indi¬
viduum ſich bis zu einer gewiſſen Stufe mindeſtens ſehr ähnlich.
Mannesorgan und Weibesorgan, Samenzelle geht auf Eizelle,
das befruchtete Ei ſpaltet ſich, es entſteht ein Zellhaufen und
ſo weiter, — hier zum Polypchen, dort zu dir. Und ſo und
nicht anders iſt's ja nun nicht bloß bei Polyp und Menſch,
ſondern auch bei Wurm und Krebs, Spinne und Käfer, See¬
ſtern und Auſter, Tintenfiſch und wirklichem Fiſch, Froſch und
Vogel. Und der Einwurf regt ſich: ja ſollte nun nicht die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0224" n="208"/>
        <cit>
          <quote>
            <lg type="poem">
              <l>&#x201E;Sag' uns, Vater, wo wir wallen,<lb/></l>
              <l>Sag' uns, Guter, wer wir &#x017F;ind?<lb/></l>
              <l>Glücklich &#x017F;ind wir, allen allen<lb/></l>
              <l>I&#x017F;t das Da&#x017F;ein &#x017F;o gelind.&#x201C;<lb/></l>
            </lg>
          </quote>
          <bibl rendition="#et">Aus Goethes Fau&#x017F;t.<lb/></bibl>
        </cit>
        <p><hi rendition="#in">I</hi>ch will dich einen Augenblick beim Polypen fe&#x017F;thalten.<lb/>
Nur einen Augenblick, &#x2014; aber wie ich hoffe, einen lehrreichen.<lb/>
Beim Polypen und &#x017F;einer Gefolg&#x017F;chaft.</p><lb/>
        <p>Ich kann dir hier gleich einen Irrtum nehmen, der un&#x017F;ere<lb/>
ganze weitere Liebesplauderei &#x017F;on&#x017F;t langweilig zu machen drohte.</p><lb/>
        <p>Der kleine grüne Süßwa&#x017F;&#x017F;erpolyp an &#x017F;einem Lin&#x017F;enblatte<lb/>
da unten &#x2014; und du, <hi rendition="#aq">homo sapiens</hi>, höch&#x017F;ter Sproß des Affen¬<lb/>
&#x017F;tammes an der Spitze der ober&#x017F;ten Wirbeltiere: ihr beide habt<lb/>
bis zur guten Ga&#x017F;träa, die&#x017F;em &#x017F;chwimmenden Urbauch, die<lb/>
gleichen älte&#x017F;ten Ahnen. Und da das biogeneti&#x017F;che Grundge&#x017F;etz<lb/>
für euch beide gilt, &#x017F;o i&#x017F;t auch euer Einzelur&#x017F;prung als Indi¬<lb/>
viduum &#x017F;ich bis zu einer gewi&#x017F;&#x017F;en Stufe minde&#x017F;tens &#x017F;ehr ähnlich.<lb/>
Mannesorgan und Weibesorgan, Samenzelle geht auf Eizelle,<lb/>
das befruchtete Ei &#x017F;paltet &#x017F;ich, es ent&#x017F;teht ein Zellhaufen und<lb/>
&#x017F;o weiter, &#x2014; hier zum Polypchen, dort zu dir. Und &#x017F;o und<lb/>
nicht anders i&#x017F;t's ja nun nicht bloß bei Polyp und Men&#x017F;ch,<lb/>
&#x017F;ondern auch bei Wurm und Krebs, Spinne und Käfer, See¬<lb/>
&#x017F;tern und Au&#x017F;ter, Tintenfi&#x017F;ch und wirklichem Fi&#x017F;ch, Fro&#x017F;ch und<lb/>
Vogel. Und der Einwurf regt &#x017F;ich: ja &#x017F;ollte nun nicht die<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[208/0224] „Sag' uns, Vater, wo wir wallen, Sag' uns, Guter, wer wir ſind? Glücklich ſind wir, allen allen Iſt das Daſein ſo gelind.“ Aus Goethes Fauſt. Ich will dich einen Augenblick beim Polypen feſthalten. Nur einen Augenblick, — aber wie ich hoffe, einen lehrreichen. Beim Polypen und ſeiner Gefolgſchaft. Ich kann dir hier gleich einen Irrtum nehmen, der unſere ganze weitere Liebesplauderei ſonſt langweilig zu machen drohte. Der kleine grüne Süßwaſſerpolyp an ſeinem Linſenblatte da unten — und du, homo sapiens, höchſter Sproß des Affen¬ ſtammes an der Spitze der oberſten Wirbeltiere: ihr beide habt bis zur guten Gaſträa, dieſem ſchwimmenden Urbauch, die gleichen älteſten Ahnen. Und da das biogenetiſche Grundgeſetz für euch beide gilt, ſo iſt auch euer Einzelurſprung als Indi¬ viduum ſich bis zu einer gewiſſen Stufe mindeſtens ſehr ähnlich. Mannesorgan und Weibesorgan, Samenzelle geht auf Eizelle, das befruchtete Ei ſpaltet ſich, es entſteht ein Zellhaufen und ſo weiter, — hier zum Polypchen, dort zu dir. Und ſo und nicht anders iſt's ja nun nicht bloß bei Polyp und Menſch, ſondern auch bei Wurm und Krebs, Spinne und Käfer, See¬ ſtern und Auſter, Tintenfiſch und wirklichem Fiſch, Froſch und Vogel. Und der Einwurf regt ſich: ja ſollte nun nicht die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/224
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/224>, abgerufen am 06.05.2024.