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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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was ein Weib ist, -- geschweige denn, daß er etwas von
jener Mathematik des Zeugungsaktes verstehe.

Du kannst diese Gedankengänge noch weit ausspinnen,
sie ergeben alle dasselbe. Denke an den Zeugungsakt selber,
-- wie nicht dein Geist und Geisteswille die Samen¬
zellen im entscheidendsten Moment wirklich in Aktion bringt,
sondern der Leib aus seiner Initiative. Erinnere dich, wie
der weibliche Mutterschoß jetzt in langer Reihe kunstvollster
Akte dem wachsenden Keimling sein verborgenes Bettlein be¬
reitet, wie das Mutterblut ihn tränkt, und wie endlich zur
rechten Stunde der Leib ihn durch pressende Wehen entläßt, --
alles allein und ohne den Geist der Mutter um Rat und
Stunde zu fragen. Erst von ihm haben die Mütter schon
früher Zeiten gelernt und dann durch Tradition weitergegeben,
daß neun Monate rund nötig sind für des werdenden Mensch¬
leins Zeit im Mutterleibe, -- aus sich hätten sie's wahrlich
nicht gewußt. Noch erlebt die Mutter ein "Wissen" des Körpers,
indem sich dann aus ihren Brüsten die köstliche Nährsuppe,
die Milch, absondert. Diese weiße warme Suppe selber wie
die natürliche Schüssel, in der sie kredenzt wird, sind genau
gemacht für ein kleines neues Wesen, das sehr im Gegensatz zu
allen reif ausgewachsenen Menschenkindern noch keinen einzigen
Zahn im Munde hat, also auf das Saugen von Flüssigkeit
angewiesen ist. Eine arme junge Menschenmutter in der Wildnis,
die ohne jede Lehre aufgewachsen ist und nie ein kleines Kind
gesehen hat vor dem Tage, da sie selbst als unwissende Eva
einem das Leben schenkt: wie sollte sie in ihrem Bewußtsein
je vorher darauf kommen, daß das Zwerglein ihres Schoßes
noch absolut nichts besitzt von dem blanken Gebiß, das sie als
Naturkind ihr eigen nennt, so lange sie sich erinnern kann!
Dieses Erinnern hat gerade da den fatalen Riß, wo ihre eigene
Lebensgeschichte in die erste Kindheit überlenkt, und schwerlich
wird es ihr noch sagen, daß auch sie selbst einmal ohne
Zähnchen an einem warmen Mutterbusen lag und saugte.

was ein Weib iſt, — geſchweige denn, daß er etwas von
jener Mathematik des Zeugungsaktes verſtehe.

Du kannſt dieſe Gedankengänge noch weit ausſpinnen,
ſie ergeben alle daſſelbe. Denke an den Zeugungsakt ſelber,
— wie nicht dein Geiſt und Geiſteswille die Samen¬
zellen im entſcheidendſten Moment wirklich in Aktion bringt,
ſondern der Leib aus ſeiner Initiative. Erinnere dich, wie
der weibliche Mutterſchoß jetzt in langer Reihe kunſtvollſter
Akte dem wachſenden Keimling ſein verborgenes Bettlein be¬
reitet, wie das Mutterblut ihn tränkt, und wie endlich zur
rechten Stunde der Leib ihn durch preſſende Wehen entläßt, —
alles allein und ohne den Geiſt der Mutter um Rat und
Stunde zu fragen. Erſt von ihm haben die Mütter ſchon
früher Zeiten gelernt und dann durch Tradition weitergegeben,
daß neun Monate rund nötig ſind für des werdenden Menſch¬
leins Zeit im Mutterleibe, — aus ſich hätten ſie's wahrlich
nicht gewußt. Noch erlebt die Mutter ein „Wiſſen“ des Körpers,
indem ſich dann aus ihren Brüſten die köſtliche Nährſuppe,
die Milch, abſondert. Dieſe weiße warme Suppe ſelber wie
die natürliche Schüſſel, in der ſie kredenzt wird, ſind genau
gemacht für ein kleines neues Weſen, das ſehr im Gegenſatz zu
allen reif ausgewachſenen Menſchenkindern noch keinen einzigen
Zahn im Munde hat, alſo auf das Saugen von Flüſſigkeit
angewieſen iſt. Eine arme junge Menſchenmutter in der Wildnis,
die ohne jede Lehre aufgewachſen iſt und nie ein kleines Kind
geſehen hat vor dem Tage, da ſie ſelbſt als unwiſſende Eva
einem das Leben ſchenkt: wie ſollte ſie in ihrem Bewußtſein
je vorher darauf kommen, daß das Zwerglein ihres Schoßes
noch abſolut nichts beſitzt von dem blanken Gebiß, das ſie als
Naturkind ihr eigen nennt, ſo lange ſie ſich erinnern kann!
Dieſes Erinnern hat gerade da den fatalen Riß, wo ihre eigene
Lebensgeſchichte in die erſte Kindheit überlenkt, und ſchwerlich
wird es ihr noch ſagen, daß auch ſie ſelbſt einmal ohne
Zähnchen an einem warmen Mutterbuſen lag und ſaugte.

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[54/0070] was ein Weib iſt, — geſchweige denn, daß er etwas von jener Mathematik des Zeugungsaktes verſtehe. Du kannſt dieſe Gedankengänge noch weit ausſpinnen, ſie ergeben alle daſſelbe. Denke an den Zeugungsakt ſelber, — wie nicht dein Geiſt und Geiſteswille die Samen¬ zellen im entſcheidendſten Moment wirklich in Aktion bringt, ſondern der Leib aus ſeiner Initiative. Erinnere dich, wie der weibliche Mutterſchoß jetzt in langer Reihe kunſtvollſter Akte dem wachſenden Keimling ſein verborgenes Bettlein be¬ reitet, wie das Mutterblut ihn tränkt, und wie endlich zur rechten Stunde der Leib ihn durch preſſende Wehen entläßt, — alles allein und ohne den Geiſt der Mutter um Rat und Stunde zu fragen. Erſt von ihm haben die Mütter ſchon früher Zeiten gelernt und dann durch Tradition weitergegeben, daß neun Monate rund nötig ſind für des werdenden Menſch¬ leins Zeit im Mutterleibe, — aus ſich hätten ſie's wahrlich nicht gewußt. Noch erlebt die Mutter ein „Wiſſen“ des Körpers, indem ſich dann aus ihren Brüſten die köſtliche Nährſuppe, die Milch, abſondert. Dieſe weiße warme Suppe ſelber wie die natürliche Schüſſel, in der ſie kredenzt wird, ſind genau gemacht für ein kleines neues Weſen, das ſehr im Gegenſatz zu allen reif ausgewachſenen Menſchenkindern noch keinen einzigen Zahn im Munde hat, alſo auf das Saugen von Flüſſigkeit angewieſen iſt. Eine arme junge Menſchenmutter in der Wildnis, die ohne jede Lehre aufgewachſen iſt und nie ein kleines Kind geſehen hat vor dem Tage, da ſie ſelbſt als unwiſſende Eva einem das Leben ſchenkt: wie ſollte ſie in ihrem Bewußtſein je vorher darauf kommen, daß das Zwerglein ihres Schoßes noch abſolut nichts beſitzt von dem blanken Gebiß, das ſie als Naturkind ihr eigen nennt, ſo lange ſie ſich erinnern kann! Dieſes Erinnern hat gerade da den fatalen Riß, wo ihre eigene Lebensgeſchichte in die erſte Kindheit überlenkt, und ſchwerlich wird es ihr noch ſagen, daß auch ſie ſelbſt einmal ohne Zähnchen an einem warmen Mutterbuſen lag und ſaugte.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/70>, abgerufen am 28.04.2024.