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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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§ 53. Anapästische Verse.

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Anapästische Verse sind charakteristisch für die chorischen pbo_079.003
Abschlüsse im antiken Drama. Daß die Alten gerade bei pbo_079.004
diesem Anlaß zum anapästischen Verse griffen, läßt namentlich pbo_079.005
am Schlusse der Dramen (so aller erhaltenen Sophokleischen pbo_079.006
außer, wie schon oben berührt, im König Oedipus) ihre pbo_079.007
hohe Kunstweisheit wieder recht hervorleuchten. Denn der pbo_079.008
Tonfall der Anapäste, der ja zu den Taktschlüssen hineilt, pbo_079.009
hat recht etwas zum Abschluß hindrängendes; auch dann, wenn, pbo_079.010
wie im daktylischen Takt die beiden kurzen (leichten) Silben pbo_079.011
zu einer langen zusammengezogen sind, oder rhythmisch gegesprochen pbo_079.012
jambischer Takt stellvertretend eintritt. Dieser Eindruck pbo_079.013
wird noch verstärkt, wenn, wie in den angeführten Mustern, pbo_079.014
mehrere vollständige anapästische Reihen schließlich auf eine pbo_079.015
unvollständige (katalektische) hinausgeführt und so gleichsam pbo_079.016
zum Stocken gebracht werden. Der Typus für diese Anapästen pbo_079.017
ist der Viertakter:

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Wohl viel | mag schaun | und im Schau | en der Mensch | pbo_079.019
Ausspähn |; doch eh | er geschaut | weissagt | pbo_079.020
Kein Mensch | die Geschick | e der Zu | kunft.

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Platens komische Nachahmung in den bereits angeführten pbo_079.022
Aristophanischen Lustspielen zieht im Dialog je einen pbo_079.023
akatalektischen und katalektischen anapästischen Viertakter zu pbo_079.024
einer Langzeile zusammen, um mit den trochäischen Oktonaren pbo_079.025
der Parabase abzuwechseln. Der energischere, klassisch geweihte pbo_079.026
Rhythmus erlaubt ihm dann, aus der komischen Atemlosigkeit pbo_079.027
heraus gelegentlich ernstere Töne anzuschlagen:

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Wenn streng der Poet voll feurigen Spotts | der empor sich pbo_079.029
schraubenden Ohnmacht
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§ 53. Anapästische Verse.

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Anapästische Verse sind charakteristisch für die chorischen pbo_079.003
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zu einer langen zusammengezogen sind, oder rhythmisch gegesprochen pbo_079.012
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mehrere vollständige anapästische Reihen schließlich auf eine pbo_079.015
unvollständige (katalektische) hinausgeführt und so gleichsam pbo_079.016
zum Stocken gebracht werden. Der Typus für diese Anapästen pbo_079.017
ist der Viertakter:

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Wohl víel | mag scháun | und im Scháu | en der Mensch | pbo_079.019
Ausspä́hn |; doch éh | er gescháut | weisságt | pbo_079.020
Kein Ménsch | die Geschíck | e der Zú | kunft.

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Platens komische Nachahmung in den bereits angeführten pbo_079.022
Aristophanischen Lustspielen zieht im Dialog je einen pbo_079.023
akatalektischen und katalektischen anapästischen Viertakter zu pbo_079.024
einer Langzeile zusammen, um mit den trochäischen Oktonaren pbo_079.025
der Parabase abzuwechseln. Der energischere, klassisch geweihte pbo_079.026
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heraus gelegentlich ernstere Töne anzuschlagen:

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/83>, abgerufen am 06.05.2024.