Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

pbo_093.001
sechszeilige (zweimal dreizeilige, sixain, Terzette) als Epodos pbo_093.002
ab. Der typische Rhythmus ist der fünffüßige Jambus. Die pbo_093.003
Reimverschränkung zeigt, durch Buchstaben ausgedrückt, unter pbo_093.004
mannigfachen Varianten den Typus:

pbo_093.005
a b b a pbo_093.006
a b b a pbo_093.007
c d e -- c d e pbo_093.008
oder c d c -- d e e
pbo_093.009
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen, pbo_093.010
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden; pbo_093.011
Der Widerwille ist auch mir verschwunden, pbo_093.012
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
pbo_093.013
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! pbo_093.014
Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden pbo_093.015
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, pbo_093.016
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen!
pbo_093.017
So ist's mit aller Bildung auch beschaffen: pbo_093.018
Vergebens werden ungebundne Geister pbo_093.019
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
pbo_093.020
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen; pbo_093.021
Jn der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, pbo_093.022
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
pbo_093.023

Goethe.

pbo_093.024
Durch ihre Ausdehnung vermag diese Strophenform einen pbo_093.025
poetischen Jnhalt vollkommen in sich abzuschließen, wobei ihr pbo_093.026
logischer Bau (gleichsam Prämissen und Konklusion) zur angemessenen pbo_093.027
Zusammendrängung eines überfließenden Stoffes pbo_093.028
förmlich die Anleitung giebt. So ward das Sonett früh pbo_093.029
(durch Petrarca) zum bevorzugten Träger des poetischen Tagebuchs, pbo_093.030
eine poetische Beichtformel, der die edelsten Geister

pbo_093.001
sechszeilige (zweimal dreizeilige, sixain, Terzette) als Epodos pbo_093.002
ab. Der typische Rhythmus ist der fünffüßige Jambus. Die pbo_093.003
Reimverschränkung zeigt, durch Buchstaben ausgedrückt, unter pbo_093.004
mannigfachen Varianten den Typus:

pbo_093.005
a b b a pbo_093.006
a b b a pbo_093.007
c d e — c d e pbo_093.008
oder c d c — d e e
pbo_093.009
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen, pbo_093.010
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden; pbo_093.011
Der Widerwille ist auch mir verschwunden, pbo_093.012
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
pbo_093.013
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! pbo_093.014
Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden pbo_093.015
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, pbo_093.016
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen!
pbo_093.017
So ist's mit aller Bildung auch beschaffen: pbo_093.018
Vergebens werden ungebundne Geister pbo_093.019
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
pbo_093.020
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen; pbo_093.021
Jn der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, pbo_093.022
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
pbo_093.023

Goethe.

pbo_093.024
Durch ihre Ausdehnung vermag diese Strophenform einen pbo_093.025
poetischen Jnhalt vollkommen in sich abzuschließen, wobei ihr pbo_093.026
logischer Bau (gleichsam Prämissen und Konklusion) zur angemessenen pbo_093.027
Zusammendrängung eines überfließenden Stoffes pbo_093.028
förmlich die Anleitung giebt. So ward das Sonett früh pbo_093.029
(durch Petrarca) zum bevorzugten Träger des poetischen Tagebuchs, pbo_093.030
eine poetische Beichtformel, der die edelsten Geister

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0097" n="93"/><lb n="pbo_093.001"/>
sechszeilige (zweimal dreizeilige, sixain, Terzette) als Epodos <lb n="pbo_093.002"/>
ab. Der typische Rhythmus ist der fünffüßige Jambus. Die <lb n="pbo_093.003"/>
Reimverschränkung zeigt, durch Buchstaben ausgedrückt, unter <lb n="pbo_093.004"/>
mannigfachen Varianten den Typus:</p>
              <lb n="pbo_093.005"/>
              <lg>
                <l>a b b a</l>
                <lb n="pbo_093.006"/>
                <l>a b b a</l>
                <lb n="pbo_093.007"/>
                <l>c d e &#x2014; c d e</l>
                <lb n="pbo_093.008"/>
                <l>oder c d c &#x2014; d e e </l>
              </lg>
              <lg type="poem">
                <lb n="pbo_093.009"/>
                <lg>
                  <l>Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen,</l>
                  <lb n="pbo_093.010"/>
                  <l>Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;</l>
                  <lb n="pbo_093.011"/>
                  <l>Der Widerwille ist auch mir verschwunden,</l>
                  <lb n="pbo_093.012"/>
                  <l>Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.</l>
                </lg>
                <lb n="pbo_093.013"/>
                <lg>
                  <l>Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! </l>
                  <lb n="pbo_093.014"/>
                  <l>Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden</l>
                  <lb n="pbo_093.015"/>
                  <l>Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,</l>
                  <lb n="pbo_093.016"/>
                  <l>Mag frei Natur im Herzen wieder glühen!</l>
                </lg>
                <lb n="pbo_093.017"/>
                <lg>
                  <l>So ist's mit aller Bildung auch beschaffen:</l>
                  <lb n="pbo_093.018"/>
                  <l>Vergebens werden ungebundne Geister </l>
                  <lb n="pbo_093.019"/>
                  <l>Nach der Vollendung reiner Höhe streben.</l>
                </lg>
                <lb n="pbo_093.020"/>
                <lg>
                  <l>Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;</l>
                  <lb n="pbo_093.021"/>
                  <l>Jn der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, </l>
                  <lb n="pbo_093.022"/>
                  <l>Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.</l>
                </lg>
              </lg>
              <lb n="pbo_093.023"/>
              <p>    Goethe. </p>
              <p><lb n="pbo_093.024"/>
Durch ihre Ausdehnung vermag diese Strophenform einen <lb n="pbo_093.025"/>
poetischen Jnhalt vollkommen in sich abzuschließen, wobei ihr <lb n="pbo_093.026"/>
logischer Bau (gleichsam Prämissen und Konklusion) zur angemessenen <lb n="pbo_093.027"/>
Zusammendrängung eines überfließenden Stoffes <lb n="pbo_093.028"/>
förmlich die Anleitung giebt. So ward das Sonett früh <lb n="pbo_093.029"/>
(durch Petrarca) zum bevorzugten Träger des poetischen Tagebuchs, <lb n="pbo_093.030"/>
eine poetische Beichtformel, der die edelsten Geister
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0097] pbo_093.001 sechszeilige (zweimal dreizeilige, sixain, Terzette) als Epodos pbo_093.002 ab. Der typische Rhythmus ist der fünffüßige Jambus. Die pbo_093.003 Reimverschränkung zeigt, durch Buchstaben ausgedrückt, unter pbo_093.004 mannigfachen Varianten den Typus: pbo_093.005 a b b a pbo_093.006 a b b a pbo_093.007 c d e — c d e pbo_093.008 oder c d c — d e e pbo_093.009 Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen, pbo_093.010 Und haben sich, eh man es denkt, gefunden; pbo_093.011 Der Widerwille ist auch mir verschwunden, pbo_093.012 Und beide scheinen gleich mich anzuziehen. pbo_093.013 Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! pbo_093.014 Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden pbo_093.015 Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, pbo_093.016 Mag frei Natur im Herzen wieder glühen! pbo_093.017 So ist's mit aller Bildung auch beschaffen: pbo_093.018 Vergebens werden ungebundne Geister pbo_093.019 Nach der Vollendung reiner Höhe streben. pbo_093.020 Wer Großes will, muß sich zusammenraffen; pbo_093.021 Jn der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, pbo_093.022 Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. pbo_093.023 Goethe. pbo_093.024 Durch ihre Ausdehnung vermag diese Strophenform einen pbo_093.025 poetischen Jnhalt vollkommen in sich abzuschließen, wobei ihr pbo_093.026 logischer Bau (gleichsam Prämissen und Konklusion) zur angemessenen pbo_093.027 Zusammendrängung eines überfließenden Stoffes pbo_093.028 förmlich die Anleitung giebt. So ward das Sonett früh pbo_093.029 (durch Petrarca) zum bevorzugten Träger des poetischen Tagebuchs, pbo_093.030 eine poetische Beichtformel, der die edelsten Geister

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (doppelt erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Hervorhebungen durch Wechsel von Fraktur zu Antiqua: nicht gekennzeichnet




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/97
Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/97>, abgerufen am 06.05.2024.