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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830.

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trauen anzusehen. Ein Beispiel hiezu giebt des Copernicus
Hypothese, daß die Erde um die Sonne laufe. Aus ihr ließen sich
alle rechtläufige und rückläufige Bewegungen der Planeten, als
aus bloßem Scheine entspringend, als ganz entsprechend der rela-
tiven Bewegung gegen die bewegte Erde, erklären, statt daß die
ältere Hypothese, daß die Erde ruhe, zu der Voraussetzung, daß
die Planeten in sehr verschlungenen Bahnen laufen müßten,
führte. Diese Hypothesen sind nicht selten von der Art, daß sich
an sie strenge rechnende Bestimmungen knüpfen lassen, und in
dem Falle läßt sich zu einer vollkommenen Entscheidung über ihre
Richtigkeit gelangen; denn wenn die Erfolge nicht bloß obenhin
so sind, wie die Hypothese sie erwarten läßt, sondern die Erschei-
nungen genau in dem Maaße, zu der richtigen Zeit, eintreffen,
wie sie eintreffen sollten, so kann man, je schärfer dies der Fall
ist, desto sicherer, die Wahrheit der Hypothese als entschieden an-
sehen. Das glänzendste Beispiel einer solchen durch die mathema-
tische Berechnung bewährten Hypothese stellt uns Newtons
Attractionslehre dar, indem die nach ihr berechneten Bewegungen
der Planeten jeder Beobachtung derselben so genau entsprechen,
daß die Vorherbestimmung aller Erscheinungen mit der größten
Genauigkeit zutrifft, und dieses Zutreffen statt findet, ohne daß
es einer Hülfshypothese oder irgend einer für einen Planeten so,
für den andern Planeten anders bestimmten Correction bedarf.
Und so wie hier sich eine Hypothese, als ein großes Ganzes von
Erscheinungen umfassend, bewährt hat, so haben auch manche
andre Hypothesen sich, mehr oder minder fruchtbar in dem Um-
fange ihrer Anwendungen, als wahr und als zu Erklärung ganzer
Reihen von Erscheinungen zureichend, gezeigt. Die Gefahr, durch
falsche Hypothesen irre geführt zu werden, läßt sich durch aufrich-
tige Wahrheitsliebe und durch aufmerksames Beachten aller Um-
stände zwar nicht unbedingt vermeiden, aber doch in hohem Grade
vermindern. Wenn man mit möglichster Strenge die Folgerungen
entwickelt, zu denen die Hypothese führt, und mit unbefangener
Achtsamkeit die Erscheinungen, die sich wirklich zeigen, damit ver-
gleicht, so darf man hoffen, daß der Irrthum, zu dem eine falsche
Hypothese verleiten könnte, nicht lange unentdeckt bleiben kann,
und es versteht sich, daß man sich nicht durch Vorliebe für eine

trauen anzuſehen. Ein Beiſpiel hiezu giebt des Copernicus
Hypotheſe, daß die Erde um die Sonne laufe. Aus ihr ließen ſich
alle rechtlaͤufige und ruͤcklaͤufige Bewegungen der Planeten, als
aus bloßem Scheine entſpringend, als ganz entſprechend der rela-
tiven Bewegung gegen die bewegte Erde, erklaͤren, ſtatt daß die
aͤltere Hypotheſe, daß die Erde ruhe, zu der Vorausſetzung, daß
die Planeten in ſehr verſchlungenen Bahnen laufen muͤßten,
fuͤhrte. Dieſe Hypotheſen ſind nicht ſelten von der Art, daß ſich
an ſie ſtrenge rechnende Beſtimmungen knuͤpfen laſſen, und in
dem Falle laͤßt ſich zu einer vollkommenen Entſcheidung uͤber ihre
Richtigkeit gelangen; denn wenn die Erfolge nicht bloß obenhin
ſo ſind, wie die Hypotheſe ſie erwarten laͤßt, ſondern die Erſchei-
nungen genau in dem Maaße, zu der richtigen Zeit, eintreffen,
wie ſie eintreffen ſollten, ſo kann man, je ſchaͤrfer dies der Fall
iſt, deſto ſicherer, die Wahrheit der Hypotheſe als entſchieden an-
ſehen. Das glaͤnzendſte Beiſpiel einer ſolchen durch die mathema-
tiſche Berechnung bewaͤhrten Hypotheſe ſtellt uns Newtons
Attractionslehre dar, indem die nach ihr berechneten Bewegungen
der Planeten jeder Beobachtung derſelben ſo genau entſprechen,
daß die Vorherbeſtimmung aller Erſcheinungen mit der groͤßten
Genauigkeit zutrifft, und dieſes Zutreffen ſtatt findet, ohne daß
es einer Huͤlfshypotheſe oder irgend einer fuͤr einen Planeten ſo,
fuͤr den andern Planeten anders beſtimmten Correction bedarf.
Und ſo wie hier ſich eine Hypotheſe, als ein großes Ganzes von
Erſcheinungen umfaſſend, bewaͤhrt hat, ſo haben auch manche
andre Hypotheſen ſich, mehr oder minder fruchtbar in dem Um-
fange ihrer Anwendungen, als wahr und als zu Erklaͤrung ganzer
Reihen von Erſcheinungen zureichend, gezeigt. Die Gefahr, durch
falſche Hypotheſen irre gefuͤhrt zu werden, laͤßt ſich durch aufrich-
tige Wahrheitsliebe und durch aufmerkſames Beachten aller Um-
ſtaͤnde zwar nicht unbedingt vermeiden, aber doch in hohem Grade
vermindern. Wenn man mit moͤglichſter Strenge die Folgerungen
entwickelt, zu denen die Hypotheſe fuͤhrt, und mit unbefangener
Achtſamkeit die Erſcheinungen, die ſich wirklich zeigen, damit ver-
gleicht, ſo darf man hoffen, daß der Irrthum, zu dem eine falſche
Hypotheſe verleiten koͤnnte, nicht lange unentdeckt bleiben kann,
und es verſteht ſich, daß man ſich nicht durch Vorliebe fuͤr eine

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[8/0030] trauen anzuſehen. Ein Beiſpiel hiezu giebt des Copernicus Hypotheſe, daß die Erde um die Sonne laufe. Aus ihr ließen ſich alle rechtlaͤufige und ruͤcklaͤufige Bewegungen der Planeten, als aus bloßem Scheine entſpringend, als ganz entſprechend der rela- tiven Bewegung gegen die bewegte Erde, erklaͤren, ſtatt daß die aͤltere Hypotheſe, daß die Erde ruhe, zu der Vorausſetzung, daß die Planeten in ſehr verſchlungenen Bahnen laufen muͤßten, fuͤhrte. Dieſe Hypotheſen ſind nicht ſelten von der Art, daß ſich an ſie ſtrenge rechnende Beſtimmungen knuͤpfen laſſen, und in dem Falle laͤßt ſich zu einer vollkommenen Entſcheidung uͤber ihre Richtigkeit gelangen; denn wenn die Erfolge nicht bloß obenhin ſo ſind, wie die Hypotheſe ſie erwarten laͤßt, ſondern die Erſchei- nungen genau in dem Maaße, zu der richtigen Zeit, eintreffen, wie ſie eintreffen ſollten, ſo kann man, je ſchaͤrfer dies der Fall iſt, deſto ſicherer, die Wahrheit der Hypotheſe als entſchieden an- ſehen. Das glaͤnzendſte Beiſpiel einer ſolchen durch die mathema- tiſche Berechnung bewaͤhrten Hypotheſe ſtellt uns Newtons Attractionslehre dar, indem die nach ihr berechneten Bewegungen der Planeten jeder Beobachtung derſelben ſo genau entſprechen, daß die Vorherbeſtimmung aller Erſcheinungen mit der groͤßten Genauigkeit zutrifft, und dieſes Zutreffen ſtatt findet, ohne daß es einer Huͤlfshypotheſe oder irgend einer fuͤr einen Planeten ſo, fuͤr den andern Planeten anders beſtimmten Correction bedarf. Und ſo wie hier ſich eine Hypotheſe, als ein großes Ganzes von Erſcheinungen umfaſſend, bewaͤhrt hat, ſo haben auch manche andre Hypotheſen ſich, mehr oder minder fruchtbar in dem Um- fange ihrer Anwendungen, als wahr und als zu Erklaͤrung ganzer Reihen von Erſcheinungen zureichend, gezeigt. Die Gefahr, durch falſche Hypotheſen irre gefuͤhrt zu werden, laͤßt ſich durch aufrich- tige Wahrheitsliebe und durch aufmerkſames Beachten aller Um- ſtaͤnde zwar nicht unbedingt vermeiden, aber doch in hohem Grade vermindern. Wenn man mit moͤglichſter Strenge die Folgerungen entwickelt, zu denen die Hypotheſe fuͤhrt, und mit unbefangener Achtſamkeit die Erſcheinungen, die ſich wirklich zeigen, damit ver- gleicht, ſo darf man hoffen, daß der Irrthum, zu dem eine falſche Hypotheſe verleiten koͤnnte, nicht lange unentdeckt bleiben kann, und es verſteht ſich, daß man ſich nicht durch Vorliebe fuͤr eine

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/30>, abgerufen am 29.04.2024.