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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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daher dem Timanthes wenigstens den Ruhm lassen, in der
Durchführung keinem seiner Zeitgenossen nachgestanden zu
haben. In dieser Beziehung kann uns das Bild des Heros
als Beleg dienen, dessen wahrscheinlich einem Epigramme
entnommenes Lob sich nicht unpassend mit dem zusammen-
stellen lässt, was von Polyklet und seinem Kanon gesagt
wurde: dass er allein die Kunst selbst in einem Kunstwerke
dargestellt habe. -- Doch, wie Plinius sagt, ingenium tamen
ultra artem est. Dieses ingenium kann, wenn wir auch nur
die genannten wenigen Werke des Timanthes in Betracht
ziehen wollen, nichts anderes sein, als die angeborene Gabe,
in der Motivirung künstlerischer Aufgaben solche Momente
aufzufinden, welche nicht nur die Sinne zu befriedigen, son-
dern noch mehr den Geist des Beschauers zum Nachdenken
auch über das unmittelbar Dargestellte hinaus anzuregen ge-
eignet erscheinen: intelligitur plus semper quam pingitur.
Diese Anregung wird natürlich ihrem Grade und ihrer Stärke
nach sehr verschieden sein können: und so ist es z. B. in
dem Bilde des Kyklopen zunächst der reine Verstand, der
sich an der Berechnung der Grösse des Riesen nach Maass-
gabe der Satyrn erfreuet; in dem Bilde der Iphigenie beruht
auf der Verhüllung des Agamemnon die höchste tragische
Wirkung. Man könnte zwar etwa behaupten wollen, dass
dem Timanthes möglicher Weise hier nur der Ruhm eines
glücklichen Einfalles gebühre, der wohl geeignet sei, ihm
den Beifall der nach ähnlichem Effect trachtenden Redner
zu erwirken, aber noch nicht hinreiche, um darauf das Lob
einer besonderen Tiefe der geistigen Auffassung zu begrün-
den. Fassen wir jedoch die Nachrichten über Timanthes in
ihrer Gesammtheit ins Auge, so werden wir nicht umhin
können, das Urtheil des Plinius als vollgültig anzuerkennen.
Schon in der Wahl eines Gegenstandes, wie die hinterlistige
Ermordung des Palamedes, spricht sich die Neigung aus, die
Bedeutung der Handlung in den ihr zu Grunde liegenden
geistigen Motiven zu suchen. Wenn nun ferner Timanthes
den Parrhasios, einen Meister in der Auffassung psycholo-
gischen Ausdruckes, in dem Urtheile über die Waffen des
Achill besiegt hat, so dürfen wir wohl behaupten, dass ihm
dies eben durch sein "ingenium" gelungen sei, nemlich durch
eine Anordnung, welche über das Sichtbare der wirklichen

daher dem Timanthes wenigstens den Ruhm lassen, in der
Durchführung keinem seiner Zeitgenossen nachgestanden zu
haben. In dieser Beziehung kann uns das Bild des Heros
als Beleg dienen, dessen wahrscheinlich einem Epigramme
entnommenes Lob sich nicht unpassend mit dem zusammen-
stellen lässt, was von Polyklet und seinem Kanon gesagt
wurde: dass er allein die Kunst selbst in einem Kunstwerke
dargestellt habe. — Doch, wie Plinius sagt, ingenium tamen
ultra artem est. Dieses ingenium kann, wenn wir auch nur
die genannten wenigen Werke des Timanthes in Betracht
ziehen wollen, nichts anderes sein, als die angeborene Gabe,
in der Motivirung künstlerischer Aufgaben solche Momente
aufzufinden, welche nicht nur die Sinne zu befriedigen, son-
dern noch mehr den Geist des Beschauers zum Nachdenken
auch über das unmittelbar Dargestellte hinaus anzuregen ge-
eignet erscheinen: intelligitur plus semper quam pingitur.
Diese Anregung wird natürlich ihrem Grade und ihrer Stärke
nach sehr verschieden sein können: und so ist es z. B. in
dem Bilde des Kyklopen zunächst der reine Verstand, der
sich an der Berechnung der Grösse des Riesen nach Maass-
gabe der Satyrn erfreuet; in dem Bilde der Iphigenie beruht
auf der Verhüllung des Agamemnon die höchste tragische
Wirkung. Man könnte zwar etwa behaupten wollen, dass
dem Timanthes möglicher Weise hier nur der Ruhm eines
glücklichen Einfalles gebühre, der wohl geeignet sei, ihm
den Beifall der nach ähnlichem Effect trachtenden Redner
zu erwirken, aber noch nicht hinreiche, um darauf das Lob
einer besonderen Tiefe der geistigen Auffassung zu begrün-
den. Fassen wir jedoch die Nachrichten über Timanthes in
ihrer Gesammtheit ins Auge, so werden wir nicht umhin
können, das Urtheil des Plinius als vollgültig anzuerkennen.
Schon in der Wahl eines Gegenstandes, wie die hinterlistige
Ermordung des Palamedes, spricht sich die Neigung aus, die
Bedeutung der Handlung in den ihr zu Grunde liegenden
geistigen Motiven zu suchen. Wenn nun ferner Timanthes
den Parrhasios, einen Meister in der Auffassung psycholo-
gischen Ausdruckes, in dem Urtheile über die Waffen des
Achill besiegt hat, so dürfen wir wohl behaupten, dass ihm
dies eben durch sein „ingenium“ gelungen sei, nemlich durch
eine Anordnung, welche über das Sichtbare der wirklichen

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[123/0131] daher dem Timanthes wenigstens den Ruhm lassen, in der Durchführung keinem seiner Zeitgenossen nachgestanden zu haben. In dieser Beziehung kann uns das Bild des Heros als Beleg dienen, dessen wahrscheinlich einem Epigramme entnommenes Lob sich nicht unpassend mit dem zusammen- stellen lässt, was von Polyklet und seinem Kanon gesagt wurde: dass er allein die Kunst selbst in einem Kunstwerke dargestellt habe. — Doch, wie Plinius sagt, ingenium tamen ultra artem est. Dieses ingenium kann, wenn wir auch nur die genannten wenigen Werke des Timanthes in Betracht ziehen wollen, nichts anderes sein, als die angeborene Gabe, in der Motivirung künstlerischer Aufgaben solche Momente aufzufinden, welche nicht nur die Sinne zu befriedigen, son- dern noch mehr den Geist des Beschauers zum Nachdenken auch über das unmittelbar Dargestellte hinaus anzuregen ge- eignet erscheinen: intelligitur plus semper quam pingitur. Diese Anregung wird natürlich ihrem Grade und ihrer Stärke nach sehr verschieden sein können: und so ist es z. B. in dem Bilde des Kyklopen zunächst der reine Verstand, der sich an der Berechnung der Grösse des Riesen nach Maass- gabe der Satyrn erfreuet; in dem Bilde der Iphigenie beruht auf der Verhüllung des Agamemnon die höchste tragische Wirkung. Man könnte zwar etwa behaupten wollen, dass dem Timanthes möglicher Weise hier nur der Ruhm eines glücklichen Einfalles gebühre, der wohl geeignet sei, ihm den Beifall der nach ähnlichem Effect trachtenden Redner zu erwirken, aber noch nicht hinreiche, um darauf das Lob einer besonderen Tiefe der geistigen Auffassung zu begrün- den. Fassen wir jedoch die Nachrichten über Timanthes in ihrer Gesammtheit ins Auge, so werden wir nicht umhin können, das Urtheil des Plinius als vollgültig anzuerkennen. Schon in der Wahl eines Gegenstandes, wie die hinterlistige Ermordung des Palamedes, spricht sich die Neigung aus, die Bedeutung der Handlung in den ihr zu Grunde liegenden geistigen Motiven zu suchen. Wenn nun ferner Timanthes den Parrhasios, einen Meister in der Auffassung psycholo- gischen Ausdruckes, in dem Urtheile über die Waffen des Achill besiegt hat, so dürfen wir wohl behaupten, dass ihm dies eben durch sein „ingenium“ gelungen sei, nemlich durch eine Anordnung, welche über das Sichtbare der wirklichen

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/131>, abgerufen am 27.04.2024.