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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859.

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sie im ersten Augenblicke das Urtheil des Lesers, wenn nicht
ungläubig, doch unvorbereitet fand. Die Kritik verlangt, ehe
sie sich zur Prüfung des Einzelnen aufgefordert fühlt, gewis-
sermaassen die moralische Ueberzeugung von der Richtigkeit
des Grundprincips in der Behandlung des Ganzen. Diese ver-
mag freilich in vollem Maasse nur durch eine selbstständige
Nachprüfung gewonnen zu werden; ein allgemeiner Gesichts-
punkt jedoch, der wohl geeignet ist, ein günstiges Vorurtheil
zu erwecken, darf auch an dieser Stelle hervorgehoben wer-
den: die Methode der Forschung nämlich ist durchaus dieselbe,
welche in der Geschichte der Bildhauer befolgt worden ist.
Sie ist aber nicht von diesen auf die Maler übertragen,
sondern sie hat sich mir bei der ersten Bearbeitung der letz-
teren und aus dieser selbst heraus gebildet. Wenn sie sich
daher später an den Bildhauern bewährte, so ist dies gewiss
das beste Zeugniss für die Richtigkeit ihrer Grundlagen; und
es kann sich demnächst nur um die Richtigkeit in dem Maasse
ihrer Anwendung handeln. Auch in dieser Beziehung sei es
mir gestattet zu sagen, dass ich der Gefahr, die Grenzen wis-
senschaftlich berechtigter Hypothese zu überschreiten, mir
wohl bewusst und darum bestrebt gewesen bin, sie nach Kräf-
ten zu vermeiden. Wenn dabei die einfachste Lösung schwie-
riger Probleme sich stets auch auf die einfachste und unge-
zwungenste Weise in den Organismus des Ganzen einfügte,
wenn namentlich durch die Betrachtung der einzelnen Erschei-
nungen sich eine stete Wechselbeziehung zwischen dem Ent-
wickelungsgange der Bildhauerei und Malerei herausstellte, so
war dadurch mir selbst ein Maassstab dargeboten, an dem sich
die grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit der einzelnen
Hypothese mit einiger Sicherheit prüfen liess. Mag also der

sie im ersten Augenblicke das Urtheil des Lesers, wenn nicht
ungläubig, doch unvorbereitet fand. Die Kritik verlangt, ehe
sie sich zur Prüfung des Einzelnen aufgefordert fühlt, gewis-
sermaassen die moralische Ueberzeugung von der Richtigkeit
des Grundprincips in der Behandlung des Ganzen. Diese ver-
mag freilich in vollem Maasse nur durch eine selbstständige
Nachprüfung gewonnen zu werden; ein allgemeiner Gesichts-
punkt jedoch, der wohl geeignet ist, ein günstiges Vorurtheil
zu erwecken, darf auch an dieser Stelle hervorgehoben wer-
den: die Methode der Forschung nämlich ist durchaus dieselbe,
welche in der Geschichte der Bildhauer befolgt worden ist.
Sie ist aber nicht von diesen auf die Maler übertragen,
sondern sie hat sich mir bei der ersten Bearbeitung der letz-
teren und aus dieser selbst heraus gebildet. Wenn sie sich
daher später an den Bildhauern bewährte, so ist dies gewiss
das beste Zeugniss für die Richtigkeit ihrer Grundlagen; und
es kann sich demnächst nur um die Richtigkeit in dem Maasse
ihrer Anwendung handeln. Auch in dieser Beziehung sei es
mir gestattet zu sagen, dass ich der Gefahr, die Grenzen wis-
senschaftlich berechtigter Hypothese zu überschreiten, mir
wohl bewusst und darum bestrebt gewesen bin, sie nach Kräf-
ten zu vermeiden. Wenn dabei die einfachste Lösung schwie-
riger Probleme sich stets auch auf die einfachste und unge-
zwungenste Weise in den Organismus des Ganzen einfügte,
wenn namentlich durch die Betrachtung der einzelnen Erschei-
nungen sich eine stete Wechselbeziehung zwischen dem Ent-
wickelungsgange der Bildhauerei und Malerei herausstellte, so
war dadurch mir selbst ein Maassstab dargeboten, an dem sich
die grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit der einzelnen
Hypothese mit einiger Sicherheit prüfen liess. Mag also der

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[V/0012] sie im ersten Augenblicke das Urtheil des Lesers, wenn nicht ungläubig, doch unvorbereitet fand. Die Kritik verlangt, ehe sie sich zur Prüfung des Einzelnen aufgefordert fühlt, gewis- sermaassen die moralische Ueberzeugung von der Richtigkeit des Grundprincips in der Behandlung des Ganzen. Diese ver- mag freilich in vollem Maasse nur durch eine selbstständige Nachprüfung gewonnen zu werden; ein allgemeiner Gesichts- punkt jedoch, der wohl geeignet ist, ein günstiges Vorurtheil zu erwecken, darf auch an dieser Stelle hervorgehoben wer- den: die Methode der Forschung nämlich ist durchaus dieselbe, welche in der Geschichte der Bildhauer befolgt worden ist. Sie ist aber nicht von diesen auf die Maler übertragen, sondern sie hat sich mir bei der ersten Bearbeitung der letz- teren und aus dieser selbst heraus gebildet. Wenn sie sich daher später an den Bildhauern bewährte, so ist dies gewiss das beste Zeugniss für die Richtigkeit ihrer Grundlagen; und es kann sich demnächst nur um die Richtigkeit in dem Maasse ihrer Anwendung handeln. Auch in dieser Beziehung sei es mir gestattet zu sagen, dass ich der Gefahr, die Grenzen wis- senschaftlich berechtigter Hypothese zu überschreiten, mir wohl bewusst und darum bestrebt gewesen bin, sie nach Kräf- ten zu vermeiden. Wenn dabei die einfachste Lösung schwie- riger Probleme sich stets auch auf die einfachste und unge- zwungenste Weise in den Organismus des Ganzen einfügte, wenn namentlich durch die Betrachtung der einzelnen Erschei- nungen sich eine stete Wechselbeziehung zwischen dem Ent- wickelungsgange der Bildhauerei und Malerei herausstellte, so war dadurch mir selbst ein Maassstab dargeboten, an dem sich die grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit der einzelnen Hypothese mit einiger Sicherheit prüfen liess. Mag also der

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/12>, abgerufen am 01.05.2024.