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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.
eine bedeutend jüngere Erscheinung der deutschen Rechtsentwicklung,
dass in kleineren bäuerlichen Gerichtsgemeinden von Zeit zu Zeit ein
umfassendes Weistum über das geltende Gewohnheitsrecht regel-
mässig
abgefragt wird, auf dass es nicht der Vergessenheit anheim-
falle, sondern lebendig bleibe in dem Bewusstsein der Gerichtsgenossen.
Ebensowenig reicht die nordische Einrichtung der lagsaga in hohes
Altertum hinauf7, welche darin bestand, dass ein öffentlicher Beamter,
der Gesetzsprecher, zu bestimmten Zeiten regelmässige Rechtsvorträge
zur allgemeinen Rechtsbelehrung abzuhalten hatte.

Der durchaus jugendliche Charakter unseres älteren Rechtes
äussert sich in der Vermeidung logischer Abstraktionen8 und in der
naiv sinnlichen Auffassung, welche die Rechtsgedanken zu plastisch
anschaulichem, manchmal poetischem, manchmal humoristischem Aus-
druck bringt. Uralt ist die Sitte, Rechtssätze in allitterierende
Formeln und in kurze Rechtssprichwörter zu fassen. Die west-
germanischen Rechte des Mittelalters überraschen durch die Fülle
mannigfaltiger Formen und durch eine vielgestaltige Rechtssymbolik.
Solcher Reichtum fehlt im Norden, der in dieser Beziehung stets
nüchterner geblieben ist. Aber auch die westgermanischen Rechte
scheinen sich in ältester Zeit mit wenigen aber klaren und einfachen
Formen begnügt und die spätere Mannigfaltigkeit der Rechtssymbole
erst im Laufe fortschreitender Entwicklung erzeugt zu haben.

Ein hervorstechendes Merkmal des älteren germanischen Rechtes
ist die unbeugsame Strenge, mit der es die einzelne Persönlichkeit
den herrschenden Lebensverhältnissen, den einzelnen Rechtsfall den
Anschauungen der Gesamtheit unterwirft. Der individualistische
Charakter, den man nicht selten unserem ältesten Rechte beilegen
will, fehlt ihm ganz und gar. Mehr denn in jüngerer Zeit ist das
Individuum an den Willen und an die Gebräuche der einzelnen
Verbände gefesselt, in welchen es sich bewegt, der Sippe, der wirt-
schaftlichen und der politischen Verbände, beziehungsweise des Ver-
bandes der Gefolgschaft. Nicht die Freiheit und Ungebundenheit des
einzelnen charakterisiert den ältesten Zustand unseres Rechtes. Das

7 Ein späteres Erzeugnis praktischer Bedürfnisse nennt das nordische Gesetz-
sprecheramt K. Lehmann, Z2 f. RG VI 199.
8 Ein Beispiel für viele! Die Lex Salica bestraft in Titel 41, 2, 4 den Tot-
schlag als Mord, wenn der Totschläger den Leichnam in einen Brunnen oder ins
Wasser wirft, oder mit Zweigen oder anderen Hüllen verdeckt. Es ist eine be-
sondere Nachtragssatzung, Cap. 2 c. 5 nötig geworden, um auch denjenigen Fall
als Mord zu qualifizieren, in welchem der Totschläger, um die Spur der That zu
beseitigen, den Leichnam verbrannt hat.

§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.
eine bedeutend jüngere Erscheinung der deutschen Rechtsentwicklung,
daſs in kleineren bäuerlichen Gerichtsgemeinden von Zeit zu Zeit ein
umfassendes Weistum über das geltende Gewohnheitsrecht regel-
mäſsig
abgefragt wird, auf daſs es nicht der Vergessenheit anheim-
falle, sondern lebendig bleibe in dem Bewuſstsein der Gerichtsgenossen.
Ebensowenig reicht die nordische Einrichtung der lagsaga in hohes
Altertum hinauf7, welche darin bestand, daſs ein öffentlicher Beamter,
der Gesetzsprecher, zu bestimmten Zeiten regelmäſsige Rechtsvorträge
zur allgemeinen Rechtsbelehrung abzuhalten hatte.

Der durchaus jugendliche Charakter unseres älteren Rechtes
äuſsert sich in der Vermeidung logischer Abstraktionen8 und in der
naiv sinnlichen Auffassung, welche die Rechtsgedanken zu plastisch
anschaulichem, manchmal poetischem, manchmal humoristischem Aus-
druck bringt. Uralt ist die Sitte, Rechtssätze in allitterierende
Formeln und in kurze Rechtssprichwörter zu fassen. Die west-
germanischen Rechte des Mittelalters überraschen durch die Fülle
mannigfaltiger Formen und durch eine vielgestaltige Rechtssymbolik.
Solcher Reichtum fehlt im Norden, der in dieser Beziehung stets
nüchterner geblieben ist. Aber auch die westgermanischen Rechte
scheinen sich in ältester Zeit mit wenigen aber klaren und einfachen
Formen begnügt und die spätere Mannigfaltigkeit der Rechtssymbole
erst im Laufe fortschreitender Entwicklung erzeugt zu haben.

Ein hervorstechendes Merkmal des älteren germanischen Rechtes
ist die unbeugsame Strenge, mit der es die einzelne Persönlichkeit
den herrschenden Lebensverhältnissen, den einzelnen Rechtsfall den
Anschauungen der Gesamtheit unterwirft. Der individualistische
Charakter, den man nicht selten unserem ältesten Rechte beilegen
will, fehlt ihm ganz und gar. Mehr denn in jüngerer Zeit ist das
Individuum an den Willen und an die Gebräuche der einzelnen
Verbände gefesselt, in welchen es sich bewegt, der Sippe, der wirt-
schaftlichen und der politischen Verbände, beziehungsweise des Ver-
bandes der Gefolgschaft. Nicht die Freiheit und Ungebundenheit des
einzelnen charakterisiert den ältesten Zustand unseres Rechtes. Das

7 Ein späteres Erzeugnis praktischer Bedürfnisse nennt das nordische Gesetz-
sprecheramt K. Lehmann, Z2 f. RG VI 199.
8 Ein Beispiel für viele! Die Lex Salica bestraft in Titel 41, 2, 4 den Tot-
schlag als Mord, wenn der Totschläger den Leichnam in einen Brunnen oder ins
Wasser wirft, oder mit Zweigen oder anderen Hüllen verdeckt. Es ist eine be-
sondere Nachtragssatzung, Cap. 2 c. 5 nötig geworden, um auch denjenigen Fall
als Mord zu qualifizieren, in welchem der Totschläger, um die Spur der That zu
beseitigen, den Leichnam verbrannt hat.
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[111/0129] § 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen. eine bedeutend jüngere Erscheinung der deutschen Rechtsentwicklung, daſs in kleineren bäuerlichen Gerichtsgemeinden von Zeit zu Zeit ein umfassendes Weistum über das geltende Gewohnheitsrecht regel- mäſsig abgefragt wird, auf daſs es nicht der Vergessenheit anheim- falle, sondern lebendig bleibe in dem Bewuſstsein der Gerichtsgenossen. Ebensowenig reicht die nordische Einrichtung der lagsaga in hohes Altertum hinauf 7, welche darin bestand, daſs ein öffentlicher Beamter, der Gesetzsprecher, zu bestimmten Zeiten regelmäſsige Rechtsvorträge zur allgemeinen Rechtsbelehrung abzuhalten hatte. Der durchaus jugendliche Charakter unseres älteren Rechtes äuſsert sich in der Vermeidung logischer Abstraktionen 8 und in der naiv sinnlichen Auffassung, welche die Rechtsgedanken zu plastisch anschaulichem, manchmal poetischem, manchmal humoristischem Aus- druck bringt. Uralt ist die Sitte, Rechtssätze in allitterierende Formeln und in kurze Rechtssprichwörter zu fassen. Die west- germanischen Rechte des Mittelalters überraschen durch die Fülle mannigfaltiger Formen und durch eine vielgestaltige Rechtssymbolik. Solcher Reichtum fehlt im Norden, der in dieser Beziehung stets nüchterner geblieben ist. Aber auch die westgermanischen Rechte scheinen sich in ältester Zeit mit wenigen aber klaren und einfachen Formen begnügt und die spätere Mannigfaltigkeit der Rechtssymbole erst im Laufe fortschreitender Entwicklung erzeugt zu haben. Ein hervorstechendes Merkmal des älteren germanischen Rechtes ist die unbeugsame Strenge, mit der es die einzelne Persönlichkeit den herrschenden Lebensverhältnissen, den einzelnen Rechtsfall den Anschauungen der Gesamtheit unterwirft. Der individualistische Charakter, den man nicht selten unserem ältesten Rechte beilegen will, fehlt ihm ganz und gar. Mehr denn in jüngerer Zeit ist das Individuum an den Willen und an die Gebräuche der einzelnen Verbände gefesselt, in welchen es sich bewegt, der Sippe, der wirt- schaftlichen und der politischen Verbände, beziehungsweise des Ver- bandes der Gefolgschaft. Nicht die Freiheit und Ungebundenheit des einzelnen charakterisiert den ältesten Zustand unseres Rechtes. Das 7 Ein späteres Erzeugnis praktischer Bedürfnisse nennt das nordische Gesetz- sprecheramt K. Lehmann, Z2 f. RG VI 199. 8 Ein Beispiel für viele! Die Lex Salica bestraft in Titel 41, 2, 4 den Tot- schlag als Mord, wenn der Totschläger den Leichnam in einen Brunnen oder ins Wasser wirft, oder mit Zweigen oder anderen Hüllen verdeckt. Es ist eine be- sondere Nachtragssatzung, Cap. 2 c. 5 nötig geworden, um auch denjenigen Fall als Mord zu qualifizieren, in welchem der Totschläger, um die Spur der That zu beseitigen, den Leichnam verbrannt hat.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/129>, abgerufen am 29.04.2024.