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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 20. Die Gerichtsverfassung.
dem friesisch-bairischen Rechtsprecher. Doch weist seine Stellung in
dieser Beziehung in den nordischen Rechten erhebliche Verschieden-
heiten auf, die sich wohl als verschiedene Phasen in der geschichtlichen
Entwicklung des Amtes erklären lassen. Auf dem ältesten Stand-
punkte dürfte der isländische Gesetzsprecher (lögsögumadr) stehen,
der darauf beschränkt blieb, den Gerichten auf Verlangen das Recht
zu weisen und den Leuten, die ihn darum angingen, über schwierige
Rechtsfragen Auskunft zu geben. Dagegen ist der norwegische lögmadr
aus einer begutachtenden Hilfsperson zum Urteilfinder ausgewachsen.
Eine ähnliche Entwicklung scheint der schwedische laghmather durch-
gemacht zu haben, ehe er die Stellung eines urteilenden Einzelrichters
erlangte, neben welchem das Volk keinen Anteil mehr an der Recht-
sprechung besass. Im dänischen Rechte findet sich keine Spur des
Gesetzsprechers.

Kehren wir von diesem Überblick über die jüngere Gerichtsver-
fassung zu den von Cäsar und Tacitus überlieferten Nachrichten zu-
rück, so zeigt sich, dass dem Urteilsvorschlag das consilium, welches
der richtende princeps in der Hundertschaft findet, dem Vollworte
der Gerichtsgemeinde die auctoritas, dem Rechtsgebote des Richters
das ius dicere, reddere entspricht. Richter und Gerichtsgemeinde stehen
nicht von vorneherein in scharfem Gegensatz, sondern beide wirken
zusammen, damit ein Urteil zustande komme. Der Richter hatte das
Recht, aus der Gerichtsgemeinde heraus ein Urteil zu erfragen. Er
konnte die Urteilsfrage an eine Mehrheit von Dingleuten stellen, er
konnte auch nach Belieben einen der anwesenden Dingmänner zum
Urteilsvorschlag auffordern, wie dies später in Deutschland am Königs-
gerichte und überall der Fall ist, wo nicht die Einrichtung des Schöffen-
tums oder das Amt eines ersten oder einzigen Urteilfinders besteht50.
Die Urteilsfrage war ursprünglich wohl nur ein Recht, nicht eine Pflicht
des Richters und das von der Gerichtsgemeinde bevollwortete Urteil
sicherlich auch dann giltig, wenn der Urteilsvorschlag vom Richter
selbst ausgegangen war. Von dieser Grundlage aus sind dann einzelne
Stämme zu bestimmterer Verteilung der Urteilfinderfunktionen gelangt.
Bei den Franken ernannte der Richter vor oder bei Eröffnung des
Dings einen urteilenden Ausschuss der Gerichtsgemeinde, die Rachine-
burgen, aus welchen unter Karl dem Grossen ein ständiges Urteil-
finderkollegium, das Schöffentum, hervorging. Anderwärts führte das
thatsächliche Übergewicht, welches Ansehen, Erfahrung und Rechts-
kunde gewährten, zu dem Ergebnis, dass der Richter den Urteilfinder

50 Zöpfl, Deutsche RG III 356.

§ 20. Die Gerichtsverfassung.
dem friesisch-bairischen Rechtsprecher. Doch weist seine Stellung in
dieser Beziehung in den nordischen Rechten erhebliche Verschieden-
heiten auf, die sich wohl als verschiedene Phasen in der geschichtlichen
Entwicklung des Amtes erklären lassen. Auf dem ältesten Stand-
punkte dürfte der isländische Gesetzsprecher (lögsögumađr) stehen,
der darauf beschränkt blieb, den Gerichten auf Verlangen das Recht
zu weisen und den Leuten, die ihn darum angingen, über schwierige
Rechtsfragen Auskunft zu geben. Dagegen ist der norwegische lögmađr
aus einer begutachtenden Hilfsperson zum Urteilfinder ausgewachsen.
Eine ähnliche Entwicklung scheint der schwedische laghmaþer durch-
gemacht zu haben, ehe er die Stellung eines urteilenden Einzelrichters
erlangte, neben welchem das Volk keinen Anteil mehr an der Recht-
sprechung besaſs. Im dänischen Rechte findet sich keine Spur des
Gesetzsprechers.

Kehren wir von diesem Überblick über die jüngere Gerichtsver-
fassung zu den von Cäsar und Tacitus überlieferten Nachrichten zu-
rück, so zeigt sich, daſs dem Urteilsvorschlag das consilium, welches
der richtende princeps in der Hundertschaft findet, dem Vollworte
der Gerichtsgemeinde die auctoritas, dem Rechtsgebote des Richters
das ius dicere, reddere entspricht. Richter und Gerichtsgemeinde stehen
nicht von vorneherein in scharfem Gegensatz, sondern beide wirken
zusammen, damit ein Urteil zustande komme. Der Richter hatte das
Recht, aus der Gerichtsgemeinde heraus ein Urteil zu erfragen. Er
konnte die Urteilsfrage an eine Mehrheit von Dingleuten stellen, er
konnte auch nach Belieben einen der anwesenden Dingmänner zum
Urteilsvorschlag auffordern, wie dies später in Deutschland am Königs-
gerichte und überall der Fall ist, wo nicht die Einrichtung des Schöffen-
tums oder das Amt eines ersten oder einzigen Urteilfinders besteht50.
Die Urteilsfrage war ursprünglich wohl nur ein Recht, nicht eine Pflicht
des Richters und das von der Gerichtsgemeinde bevollwortete Urteil
sicherlich auch dann giltig, wenn der Urteilsvorschlag vom Richter
selbst ausgegangen war. Von dieser Grundlage aus sind dann einzelne
Stämme zu bestimmterer Verteilung der Urteilfinderfunktionen gelangt.
Bei den Franken ernannte der Richter vor oder bei Eröffnung des
Dings einen urteilenden Ausschuſs der Gerichtsgemeinde, die Rachine-
burgen, aus welchen unter Karl dem Groſsen ein ständiges Urteil-
finderkollegium, das Schöffentum, hervorging. Anderwärts führte das
thatsächliche Übergewicht, welches Ansehen, Erfahrung und Rechts-
kunde gewährten, zu dem Ergebnis, daſs der Richter den Urteilfinder

50 Zöpfl, Deutsche RG III 356.
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[154/0172] § 20. Die Gerichtsverfassung. dem friesisch-bairischen Rechtsprecher. Doch weist seine Stellung in dieser Beziehung in den nordischen Rechten erhebliche Verschieden- heiten auf, die sich wohl als verschiedene Phasen in der geschichtlichen Entwicklung des Amtes erklären lassen. Auf dem ältesten Stand- punkte dürfte der isländische Gesetzsprecher (lögsögumađr) stehen, der darauf beschränkt blieb, den Gerichten auf Verlangen das Recht zu weisen und den Leuten, die ihn darum angingen, über schwierige Rechtsfragen Auskunft zu geben. Dagegen ist der norwegische lögmađr aus einer begutachtenden Hilfsperson zum Urteilfinder ausgewachsen. Eine ähnliche Entwicklung scheint der schwedische laghmaþer durch- gemacht zu haben, ehe er die Stellung eines urteilenden Einzelrichters erlangte, neben welchem das Volk keinen Anteil mehr an der Recht- sprechung besaſs. Im dänischen Rechte findet sich keine Spur des Gesetzsprechers. Kehren wir von diesem Überblick über die jüngere Gerichtsver- fassung zu den von Cäsar und Tacitus überlieferten Nachrichten zu- rück, so zeigt sich, daſs dem Urteilsvorschlag das consilium, welches der richtende princeps in der Hundertschaft findet, dem Vollworte der Gerichtsgemeinde die auctoritas, dem Rechtsgebote des Richters das ius dicere, reddere entspricht. Richter und Gerichtsgemeinde stehen nicht von vorneherein in scharfem Gegensatz, sondern beide wirken zusammen, damit ein Urteil zustande komme. Der Richter hatte das Recht, aus der Gerichtsgemeinde heraus ein Urteil zu erfragen. Er konnte die Urteilsfrage an eine Mehrheit von Dingleuten stellen, er konnte auch nach Belieben einen der anwesenden Dingmänner zum Urteilsvorschlag auffordern, wie dies später in Deutschland am Königs- gerichte und überall der Fall ist, wo nicht die Einrichtung des Schöffen- tums oder das Amt eines ersten oder einzigen Urteilfinders besteht 50. Die Urteilsfrage war ursprünglich wohl nur ein Recht, nicht eine Pflicht des Richters und das von der Gerichtsgemeinde bevollwortete Urteil sicherlich auch dann giltig, wenn der Urteilsvorschlag vom Richter selbst ausgegangen war. Von dieser Grundlage aus sind dann einzelne Stämme zu bestimmterer Verteilung der Urteilfinderfunktionen gelangt. Bei den Franken ernannte der Richter vor oder bei Eröffnung des Dings einen urteilenden Ausschuſs der Gerichtsgemeinde, die Rachine- burgen, aus welchen unter Karl dem Groſsen ein ständiges Urteil- finderkollegium, das Schöffentum, hervorging. Anderwärts führte das thatsächliche Übergewicht, welches Ansehen, Erfahrung und Rechts- kunde gewährten, zu dem Ergebnis, daſs der Richter den Urteilfinder 50 Zöpfl, Deutsche RG III 356.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/172>, abgerufen am 27.04.2024.