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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
jüngerer Rechtsbildung teils einer Abschwächung der unbedingten
Friedlosigkeit, teils einer bewussten Reaktion gegen die Ausdehnung
der Blutrache ihre Ausdehnung verdanken 23. Während in den Buss-
fällen der westgermanischen Rechte das Urteil stets auf das Ver-
sprechen der Busszahlung lautet und die Friedlosigkeit erst verhängt
wird, wenn der Schuldige die Erfüllung des Urteils hartnäckig ver-
weigert, spricht im Norden das Urteil bei den utlegdarmal zunächst
die Friedlosigkeit aus, gestattet aber dem Verurteilten, durch das
Anerbieten der Busszahlung den Frieden zu gewinnen. Diese resolutiv
bedingte Friedlosigkeit steht auch auf Unthaten, welche wie der
einfache Totschlag bei den Westgermanen ein Fehderecht des be-
leidigten Geschlechtes gegen den Missethäter und seine Sippe be-
gründen. Die Friedlosigkeit des Totschlägers entzieht ihm von Rechts-
wegen den Beistand seiner Magen und schliesst eine Befehdung der-
selben aus. Die Stelle des westgermanischen Fehderechts vertritt
im Norden ein Recht der Rache, welches unter dem Gesichtspunkte
der Friedlosigkeit bei handhafter That und innerhalb gewisser Be-
schränkungen in notorischen Fällen schon vor der Ächtung des Thäters
gegen die Person desselben geübt werden darf. Die westgermanischen
Rechte stehen, soweit sie die Geschlechterfehde als solche gestatten,
auf dem älteren Standpunkte der historischen Entwicklung 24.

Weit beschränkter als in den nordischen Quellen des zwölften
und dreizehnten Jahrhunderts ist das Herrschaftsgebiet der Friedlosig-
keit in den deutschen Volksrechten der fränkischen Zeit. Sie tritt
regelmässig als Folge des Ungehorsamsverfahrens ein, wenn der Misse-
thäter die rechtmässige Sühne der Unthat verweigert. Andrerseits
sind aber doch noch Spuren einer Friedlosigkeit vorhanden, welche als
Folge der Unthat an sich gesetzt ist. Die angelsächsische Rechts-
sprache überliefert uns für solche Unthaten den Ausdruck autlages
weorc 25. Nach dem Volksrechte der salischen Franken soll derjenige,
der einen bestatteten Leichnam beraubt, friedlos, wargus sein, bis er

wendung kam, wenn die gerichtlich zuerkannte Busse nicht bezahlt wurde. Für
das höhere Alter der strengen Friedlosigkeit ist Karl Lehmann, Königsfriede
S 189 ff. eingetreten. "Neben einem System schwerer Friedensbrüche kannte das
ältere Recht jedenfalls bereits ein System leichterer Missethaten, welche Busse an
den Verletzten und Strafgeld an die öffentliche Gewalt nach sich zogen." A. O. S 191.
23 Selbst fiskalische Gesichtspunkte mögen ihr nicht fremd gewesen sein.
24 Auch der Norden muss das westgermanische Fehderecht einstens gekannt
haben. Sonst würde sich die Haftung der Magen für das verwirkte Wergeld kaum
erklären lassen.
25 Knut II 13.

§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
jüngerer Rechtsbildung teils einer Abschwächung der unbedingten
Friedlosigkeit, teils einer bewuſsten Reaktion gegen die Ausdehnung
der Blutrache ihre Ausdehnung verdanken 23. Während in den Buſs-
fällen der westgermanischen Rechte das Urteil stets auf das Ver-
sprechen der Buſszahlung lautet und die Friedlosigkeit erst verhängt
wird, wenn der Schuldige die Erfüllung des Urteils hartnäckig ver-
weigert, spricht im Norden das Urteil bei den útlegđarmál zunächst
die Friedlosigkeit aus, gestattet aber dem Verurteilten, durch das
Anerbieten der Buſszahlung den Frieden zu gewinnen. Diese resolutiv
bedingte Friedlosigkeit steht auch auf Unthaten, welche wie der
einfache Totschlag bei den Westgermanen ein Fehderecht des be-
leidigten Geschlechtes gegen den Missethäter und seine Sippe be-
gründen. Die Friedlosigkeit des Totschlägers entzieht ihm von Rechts-
wegen den Beistand seiner Magen und schlieſst eine Befehdung der-
selben aus. Die Stelle des westgermanischen Fehderechts vertritt
im Norden ein Recht der Rache, welches unter dem Gesichtspunkte
der Friedlosigkeit bei handhafter That und innerhalb gewisser Be-
schränkungen in notorischen Fällen schon vor der Ächtung des Thäters
gegen die Person desselben geübt werden darf. Die westgermanischen
Rechte stehen, soweit sie die Geschlechterfehde als solche gestatten,
auf dem älteren Standpunkte der historischen Entwicklung 24.

Weit beschränkter als in den nordischen Quellen des zwölften
und dreizehnten Jahrhunderts ist das Herrschaftsgebiet der Friedlosig-
keit in den deutschen Volksrechten der fränkischen Zeit. Sie tritt
regelmäſsig als Folge des Ungehorsamsverfahrens ein, wenn der Misse-
thäter die rechtmäſsige Sühne der Unthat verweigert. Andrerseits
sind aber doch noch Spuren einer Friedlosigkeit vorhanden, welche als
Folge der Unthat an sich gesetzt ist. Die angelsächsische Rechts-
sprache überliefert uns für solche Unthaten den Ausdruck ûtlages
weorc 25. Nach dem Volksrechte der salischen Franken soll derjenige,
der einen bestatteten Leichnam beraubt, friedlos, wargus sein, bis er

wendung kam, wenn die gerichtlich zuerkannte Buſse nicht bezahlt wurde. Für
das höhere Alter der strengen Friedlosigkeit ist Karl Lehmann, Königsfriede
S 189 ff. eingetreten. „Neben einem System schwerer Friedensbrüche kannte das
ältere Recht jedenfalls bereits ein System leichterer Missethaten, welche Buſse an
den Verletzten und Strafgeld an die öffentliche Gewalt nach sich zogen.“ A. O. S 191.
23 Selbst fiskalische Gesichtspunkte mögen ihr nicht fremd gewesen sein.
24 Auch der Norden muſs das westgermanische Fehderecht einstens gekannt
haben. Sonst würde sich die Haftung der Magen für das verwirkte Wergeld kaum
erklären lassen.
25 Knut II 13.
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[171/0189] § 22. Friedlosigkeit und Opfertod. jüngerer Rechtsbildung teils einer Abschwächung der unbedingten Friedlosigkeit, teils einer bewuſsten Reaktion gegen die Ausdehnung der Blutrache ihre Ausdehnung verdanken 23. Während in den Buſs- fällen der westgermanischen Rechte das Urteil stets auf das Ver- sprechen der Buſszahlung lautet und die Friedlosigkeit erst verhängt wird, wenn der Schuldige die Erfüllung des Urteils hartnäckig ver- weigert, spricht im Norden das Urteil bei den útlegđarmál zunächst die Friedlosigkeit aus, gestattet aber dem Verurteilten, durch das Anerbieten der Buſszahlung den Frieden zu gewinnen. Diese resolutiv bedingte Friedlosigkeit steht auch auf Unthaten, welche wie der einfache Totschlag bei den Westgermanen ein Fehderecht des be- leidigten Geschlechtes gegen den Missethäter und seine Sippe be- gründen. Die Friedlosigkeit des Totschlägers entzieht ihm von Rechts- wegen den Beistand seiner Magen und schlieſst eine Befehdung der- selben aus. Die Stelle des westgermanischen Fehderechts vertritt im Norden ein Recht der Rache, welches unter dem Gesichtspunkte der Friedlosigkeit bei handhafter That und innerhalb gewisser Be- schränkungen in notorischen Fällen schon vor der Ächtung des Thäters gegen die Person desselben geübt werden darf. Die westgermanischen Rechte stehen, soweit sie die Geschlechterfehde als solche gestatten, auf dem älteren Standpunkte der historischen Entwicklung 24. Weit beschränkter als in den nordischen Quellen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts ist das Herrschaftsgebiet der Friedlosig- keit in den deutschen Volksrechten der fränkischen Zeit. Sie tritt regelmäſsig als Folge des Ungehorsamsverfahrens ein, wenn der Misse- thäter die rechtmäſsige Sühne der Unthat verweigert. Andrerseits sind aber doch noch Spuren einer Friedlosigkeit vorhanden, welche als Folge der Unthat an sich gesetzt ist. Die angelsächsische Rechts- sprache überliefert uns für solche Unthaten den Ausdruck ûtlages weorc 25. Nach dem Volksrechte der salischen Franken soll derjenige, der einen bestatteten Leichnam beraubt, friedlos, wargus sein, bis er 22 23 Selbst fiskalische Gesichtspunkte mögen ihr nicht fremd gewesen sein. 24 Auch der Norden muſs das westgermanische Fehderecht einstens gekannt haben. Sonst würde sich die Haftung der Magen für das verwirkte Wergeld kaum erklären lassen. 25 Knut II 13. 22 wendung kam, wenn die gerichtlich zuerkannte Buſse nicht bezahlt wurde. Für das höhere Alter der strengen Friedlosigkeit ist Karl Lehmann, Königsfriede S 189 ff. eingetreten. „Neben einem System schwerer Friedensbrüche kannte das ältere Recht jedenfalls bereits ein System leichterer Missethaten, welche Buſse an den Verletzten und Strafgeld an die öffentliche Gewalt nach sich zogen.“ A. O. S 191.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/189>, abgerufen am 28.04.2024.