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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 23. Der Rechtsgang.
hin ist es der Kläger selbst, der den Beklagten in feierlicher Weise
auffordert, die Antwort abzugeben. Die fränkischen Volksrechte haben
für diese Aufforderung die technische Bezeichnung tanganare 7. Wenn
der Beklagte sich verteidigt, so muss seine Antwort, ahd. werei 8,
antsegida, ags. andsaec, die Klage in ihrem vollen Inhalte Wort für
Wort negieren, da nach dem Grundsatze der Buchstabeninterpretation
das nicht Negierte für zugestanden erachtet wird.

Das gerichtliche Erkenntnis, gemeingermanisch Dom 9, west-
germanisch Urteil 10 genannt, wird nach den deutschen Stammes-
rechten vor dem Beweisverfahren gefällt. Macht die Verteidigung des
Beklagten ein solches notwendig, so bildet die Beweisfrage einen
Bestandteil des durch das Urteil auferlegten Sühnevertrags. Hat
z. B. der Beklagte zu beweisen, so gebietet ihm das Urteil zu ge-
loben, dass er den auferlegten Beweis leisten oder den Anspruch des
Klägers erfüllen werde 11.

Die Eigenart des germanischen Beweisrechtes erklärt sich aus
der Thatsache, dass der Beweis in vorhistorischer Zeit der freien
Vereinbarung der Parteien unterlag und dass der Beweisvertrag aus
der aussergerichtlichen Beilegung der Rechtshändel in den gerichtlichen
Rechtsgang herübergenommen wurde. Auf den freien Vertrag als die
ursprüngliche Grundlage des Beweisrechtes weist die Eigentümlichkeit
des ältesten salischen Rechtsganges zurück, dass es im Belieben der
Parteien stand, ein anderes als das von Rechtswegen erforderliche
Beweismittel zu paktieren, an Stelle eines Gottesurteils einen Parteieid

holung von Klage und Antwort vorausgehen lässt, halten Kläger und Beklagter
jeder einen Stab in der Hand, qui dicitur sunnestab (Wahrheitsstab?).
7 Die Abstammung des Wortes ist dunkel, dagegen sicher, dass es drängen,
treiben bedeutet. Das altfranzösische tangoner heisst reizen, in jemand dringen.
Tobler verweist mich auf folgende Belegstellen: Mir. de S. Eloi 94a: de tant con
plus le vit paisible ... de tant plus tangonnait (reizte er) le saint homme. Rom.
d'Alixandre 160: Menüement tressaut (das Ross), quant (der Reiter) un poi le
tangonne. Gautier de Coinsy 634, 156: Et si parent tant le semonent, tant l'arguent,
tant le tangonent (sich zu verheiraten).
8 Ahd. Gl. II 359, 14 (alamannisch): intentio et depulsio uerba rhetorica sunt
id est accusatio et defensio sive impulsio et depulsio, barbarice malei unde uuerei.
9 Got. doms, altn. domr, ags. und fries. dom, ahd. tuom, tom Satzung, Urteil,
Gericht. Got. domjan, ahd. tuoman, ags. deman, fries. dema, altn. doema iudicare.
10 Urteili, alts. urdeli, fries. ordel, ags. ordal ist spezifisch westgermanisch.
Zimmer, Ostgerm. und Westgerm., 1876, S 67 und Z f. DA XIX 461 ff.
11 Lex Sal. 56: si nec de compositione nec ineo nec de ulla legem fidem
facere voluerit. Lex Al. Hlo. 36, 3: et wadium suum donet ... ut in constituto
die aut legitime iuret aut si culpaviles est componat.

§ 23. Der Rechtsgang.
hin ist es der Kläger selbst, der den Beklagten in feierlicher Weise
auffordert, die Antwort abzugeben. Die fränkischen Volksrechte haben
für diese Aufforderung die technische Bezeichnung tanganare 7. Wenn
der Beklagte sich verteidigt, so muſs seine Antwort, ahd. werî 8,
antsegida, ags. andsæc, die Klage in ihrem vollen Inhalte Wort für
Wort negieren, da nach dem Grundsatze der Buchstabeninterpretation
das nicht Negierte für zugestanden erachtet wird.

Das gerichtliche Erkenntnis, gemeingermanisch Dom 9, west-
germanisch Urteil 10 genannt, wird nach den deutschen Stammes-
rechten vor dem Beweisverfahren gefällt. Macht die Verteidigung des
Beklagten ein solches notwendig, so bildet die Beweisfrage einen
Bestandteil des durch das Urteil auferlegten Sühnevertrags. Hat
z. B. der Beklagte zu beweisen, so gebietet ihm das Urteil zu ge-
loben, daſs er den auferlegten Beweis leisten oder den Anspruch des
Klägers erfüllen werde 11.

Die Eigenart des germanischen Beweisrechtes erklärt sich aus
der Thatsache, daſs der Beweis in vorhistorischer Zeit der freien
Vereinbarung der Parteien unterlag und daſs der Beweisvertrag aus
der auſsergerichtlichen Beilegung der Rechtshändel in den gerichtlichen
Rechtsgang herübergenommen wurde. Auf den freien Vertrag als die
ursprüngliche Grundlage des Beweisrechtes weist die Eigentümlichkeit
des ältesten salischen Rechtsganges zurück, daſs es im Belieben der
Parteien stand, ein anderes als das von Rechtswegen erforderliche
Beweismittel zu paktieren, an Stelle eines Gottesurteils einen Parteieid

holung von Klage und Antwort vorausgehen läſst, halten Kläger und Beklagter
jeder einen Stab in der Hand, qui dicitur sunnestab (Wahrheitsstab?).
7 Die Abstammung des Wortes ist dunkel, dagegen sicher, daſs es drängen,
treiben bedeutet. Das altfranzösische tangoner heiſst reizen, in jemand dringen.
Tobler verweist mich auf folgende Belegstellen: Mir. de S. Eloi 94a: de tant con
plus le vit paisible … de tant plus tangonnait (reizte er) le saint homme. Rom.
d’Alixandre 160: Menüement tressaut (das Roſs), quant (der Reiter) un poi le
tangonne. Gautier de Coinsy 634, 156: Et si parent tant le semonent, tant l’arguent,
tant le tangonent (sich zu verheiraten).
8 Ahd. Gl. II 359, 14 (alamannisch): intentio et depulsio uerba rhetorica sunt
id est accusatio et defensio sive impulsio et depulsio, barbarice mâlî unde uuérî.
9 Got. doms, altn. dômr, ags. und fries. dôm, ahd. tuom, tôm Satzung, Urteil,
Gericht. Got. domjan, ahd. tuoman, ags. dêman, fries. dema, altn. dœma iudicare.
10 Urteili, alts. urdêli, fries. ordêl, ags. ordâl ist spezifisch westgermanisch.
Zimmer, Ostgerm. und Westgerm., 1876, S 67 und Z f. DA XIX 461 ff.
11 Lex Sal. 56: si nec de compositione nec ineo nec de ulla legem fidem
facere voluerit. Lex Al. Hlo. 36, 3: et wadium suum donet … ut in constituto
die aut legitime iuret aut si culpaviles est componat.
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[180/0198] § 23. Der Rechtsgang. hin ist es der Kläger selbst, der den Beklagten in feierlicher Weise auffordert, die Antwort abzugeben. Die fränkischen Volksrechte haben für diese Aufforderung die technische Bezeichnung tanganare 7. Wenn der Beklagte sich verteidigt, so muſs seine Antwort, ahd. werî 8, antsegida, ags. andsæc, die Klage in ihrem vollen Inhalte Wort für Wort negieren, da nach dem Grundsatze der Buchstabeninterpretation das nicht Negierte für zugestanden erachtet wird. Das gerichtliche Erkenntnis, gemeingermanisch Dom 9, west- germanisch Urteil 10 genannt, wird nach den deutschen Stammes- rechten vor dem Beweisverfahren gefällt. Macht die Verteidigung des Beklagten ein solches notwendig, so bildet die Beweisfrage einen Bestandteil des durch das Urteil auferlegten Sühnevertrags. Hat z. B. der Beklagte zu beweisen, so gebietet ihm das Urteil zu ge- loben, daſs er den auferlegten Beweis leisten oder den Anspruch des Klägers erfüllen werde 11. Die Eigenart des germanischen Beweisrechtes erklärt sich aus der Thatsache, daſs der Beweis in vorhistorischer Zeit der freien Vereinbarung der Parteien unterlag und daſs der Beweisvertrag aus der auſsergerichtlichen Beilegung der Rechtshändel in den gerichtlichen Rechtsgang herübergenommen wurde. Auf den freien Vertrag als die ursprüngliche Grundlage des Beweisrechtes weist die Eigentümlichkeit des ältesten salischen Rechtsganges zurück, daſs es im Belieben der Parteien stand, ein anderes als das von Rechtswegen erforderliche Beweismittel zu paktieren, an Stelle eines Gottesurteils einen Parteieid 6 7 Die Abstammung des Wortes ist dunkel, dagegen sicher, daſs es drängen, treiben bedeutet. Das altfranzösische tangoner heiſst reizen, in jemand dringen. Tobler verweist mich auf folgende Belegstellen: Mir. de S. Eloi 94a: de tant con plus le vit paisible … de tant plus tangonnait (reizte er) le saint homme. Rom. d’Alixandre 160: Menüement tressaut (das Roſs), quant (der Reiter) un poi le tangonne. Gautier de Coinsy 634, 156: Et si parent tant le semonent, tant l’arguent, tant le tangonent (sich zu verheiraten). 8 Ahd. Gl. II 359, 14 (alamannisch): intentio et depulsio uerba rhetorica sunt id est accusatio et defensio sive impulsio et depulsio, barbarice mâlî unde uuérî. 9 Got. doms, altn. dômr, ags. und fries. dôm, ahd. tuom, tôm Satzung, Urteil, Gericht. Got. domjan, ahd. tuoman, ags. dêman, fries. dema, altn. dœma iudicare. 10 Urteili, alts. urdêli, fries. ordêl, ags. ordâl ist spezifisch westgermanisch. Zimmer, Ostgerm. und Westgerm., 1876, S 67 und Z f. DA XIX 461 ff. 11 Lex Sal. 56: si nec de compositione nec ineo nec de ulla legem fidem facere voluerit. Lex Al. Hlo. 36, 3: et wadium suum donet … ut in constituto die aut legitime iuret aut si culpaviles est componat. 6 holung von Klage und Antwort vorausgehen läſst, halten Kläger und Beklagter jeder einen Stab in der Hand, qui dicitur sunnestab (Wahrheitsstab?).

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/198>, abgerufen am 28.04.2024.