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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.
traten, in unangetastetem Besitze ihrer hergebrachten Stammesrechte.
Als Burgund und das westgotische Gallien fränkisch wurden, erhiel-
ten sich dort das burgundische und das westgotische Recht. Des-
gleichen führte die Eroberung des Langobardenreiches daselbst keine
unmittelbare Veränderung in der Geltung des langobardischen Rechtes
herbei.

So stehen sich innerhalb der fränkischen Monarchie die ger-
manischen Stammesrechte einerseits, das römische Recht andrerseits
gegenüber. Unter den ersteren sind wieder die zwei ostgermanischen
Stammesrechte der Burgunder und Westgoten und die Rechte der
deutschen Stämme zu unterscheiden. Jene waren zu der Zeit, da sie
Stammesrechte des fränkischen Reiches wurden, bereits stark ent-
nationalisiert und stellen sich als Zwischenbildungen germanischen
und römischen Rechtes dar. Unter den deutschen Stammesrechten
sind das alamannische und bairische von Hause aus ebenso entschieden
oberdeutsch, wie das sächsische und das friesische niederdeutsch sind.
Als niederdeutsch erscheinen auch die Rechte der salischen, ribuarischen
und chamavischen Franken. Im wesentlichen niederdeutsch ist trotz
der hochdeutschen Sprache des Volkes das Recht der Langobarden.

Das römische Recht erhielt sich in dauernder Anwendung nur
dort, wo die römische Bevölkerung dichter sass, im südlichen Gallien,
in Burgund, in den rätisch-romanischen Gegenden, in Italien und
Istrien. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Recht der
römischen Provinzialen eine ähnliche Brechung erfuhr, wie das von
ihnen gesprochene Latein. Es entwickelte sich nämlich ein römisches
Vulgarrecht, welches weniger der juristischen Logik als den praktischen
Bedürfnissen entsprechend sich als eine Fortbildung, oder wenn man
will, als eine Entartung des reinen römischen Rechtes darstellt und
sich zu diesem ähnlich verhält wie das im Volksmunde lebende
Vulgarlatein zur reinen römischen Schriftsprache.

Innerhalb der einzelnen Stammesgebiete ist das Recht kein ein-
heitliches. Bei den Sachsen zweien sich die Rechte der Ostfalen und
Engern einerseits, der Westfalen andrerseits. Das friesische Recht ist
in vielen Beziehungen ein verschiedenes für Westfriesland, Ost- und
Mittelfriesland. Unter den Ribuariern haben die Chamaven ein Sonder-
recht. Nur auf einen Teil des thüringischen Stammes bezieht sich das
Volksrecht der Angeln und Warnen. Innerhalb des langobardischen
Rechtsgebietes nimmt hinsichtlich der Rechtsbildung das Fürstentum
Benevent eine Sonderstellung ein. Und auch bei der romanischen
Bevölkerung erhielt das römische Vulgarrecht in den einzelnen Teilen
des Reiches teils aus sich selbst heraus, teils unter der Einwirkung

§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.
traten, in unangetastetem Besitze ihrer hergebrachten Stammesrechte.
Als Burgund und das westgotische Gallien fränkisch wurden, erhiel-
ten sich dort das burgundische und das westgotische Recht. Des-
gleichen führte die Eroberung des Langobardenreiches daselbst keine
unmittelbare Veränderung in der Geltung des langobardischen Rechtes
herbei.

So stehen sich innerhalb der fränkischen Monarchie die ger-
manischen Stammesrechte einerseits, das römische Recht andrerseits
gegenüber. Unter den ersteren sind wieder die zwei ostgermanischen
Stammesrechte der Burgunder und Westgoten und die Rechte der
deutschen Stämme zu unterscheiden. Jene waren zu der Zeit, da sie
Stammesrechte des fränkischen Reiches wurden, bereits stark ent-
nationalisiert und stellen sich als Zwischenbildungen germanischen
und römischen Rechtes dar. Unter den deutschen Stammesrechten
sind das alamannische und bairische von Hause aus ebenso entschieden
oberdeutsch, wie das sächsische und das friesische niederdeutsch sind.
Als niederdeutsch erscheinen auch die Rechte der salischen, ribuarischen
und chamavischen Franken. Im wesentlichen niederdeutsch ist trotz
der hochdeutschen Sprache des Volkes das Recht der Langobarden.

Das römische Recht erhielt sich in dauernder Anwendung nur
dort, wo die römische Bevölkerung dichter saſs, im südlichen Gallien,
in Burgund, in den rätisch-romanischen Gegenden, in Italien und
Istrien. Dabei darf nicht übersehen werden, daſs das Recht der
römischen Provinzialen eine ähnliche Brechung erfuhr, wie das von
ihnen gesprochene Latein. Es entwickelte sich nämlich ein römisches
Vulgarrecht, welches weniger der juristischen Logik als den praktischen
Bedürfnissen entsprechend sich als eine Fortbildung, oder wenn man
will, als eine Entartung des reinen römischen Rechtes darstellt und
sich zu diesem ähnlich verhält wie das im Volksmunde lebende
Vulgarlatein zur reinen römischen Schriftsprache.

Innerhalb der einzelnen Stammesgebiete ist das Recht kein ein-
heitliches. Bei den Sachsen zweien sich die Rechte der Ostfalen und
Engern einerseits, der Westfalen andrerseits. Das friesische Recht ist
in vielen Beziehungen ein verschiedenes für Westfriesland, Ost- und
Mittelfriesland. Unter den Ribuariern haben die Chamaven ein Sonder-
recht. Nur auf einen Teil des thüringischen Stammes bezieht sich das
Volksrecht der Angeln und Warnen. Innerhalb des langobardischen
Rechtsgebietes nimmt hinsichtlich der Rechtsbildung das Fürstentum
Benevent eine Sonderstellung ein. Und auch bei der romanischen
Bevölkerung erhielt das römische Vulgarrecht in den einzelnen Teilen
des Reiches teils aus sich selbst heraus, teils unter der Einwirkung

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[255/0273] § 33. Vielheit und Einheit des Rechtes. traten, in unangetastetem Besitze ihrer hergebrachten Stammesrechte. Als Burgund und das westgotische Gallien fränkisch wurden, erhiel- ten sich dort das burgundische und das westgotische Recht. Des- gleichen führte die Eroberung des Langobardenreiches daselbst keine unmittelbare Veränderung in der Geltung des langobardischen Rechtes herbei. So stehen sich innerhalb der fränkischen Monarchie die ger- manischen Stammesrechte einerseits, das römische Recht andrerseits gegenüber. Unter den ersteren sind wieder die zwei ostgermanischen Stammesrechte der Burgunder und Westgoten und die Rechte der deutschen Stämme zu unterscheiden. Jene waren zu der Zeit, da sie Stammesrechte des fränkischen Reiches wurden, bereits stark ent- nationalisiert und stellen sich als Zwischenbildungen germanischen und römischen Rechtes dar. Unter den deutschen Stammesrechten sind das alamannische und bairische von Hause aus ebenso entschieden oberdeutsch, wie das sächsische und das friesische niederdeutsch sind. Als niederdeutsch erscheinen auch die Rechte der salischen, ribuarischen und chamavischen Franken. Im wesentlichen niederdeutsch ist trotz der hochdeutschen Sprache des Volkes das Recht der Langobarden. Das römische Recht erhielt sich in dauernder Anwendung nur dort, wo die römische Bevölkerung dichter saſs, im südlichen Gallien, in Burgund, in den rätisch-romanischen Gegenden, in Italien und Istrien. Dabei darf nicht übersehen werden, daſs das Recht der römischen Provinzialen eine ähnliche Brechung erfuhr, wie das von ihnen gesprochene Latein. Es entwickelte sich nämlich ein römisches Vulgarrecht, welches weniger der juristischen Logik als den praktischen Bedürfnissen entsprechend sich als eine Fortbildung, oder wenn man will, als eine Entartung des reinen römischen Rechtes darstellt und sich zu diesem ähnlich verhält wie das im Volksmunde lebende Vulgarlatein zur reinen römischen Schriftsprache. Innerhalb der einzelnen Stammesgebiete ist das Recht kein ein- heitliches. Bei den Sachsen zweien sich die Rechte der Ostfalen und Engern einerseits, der Westfalen andrerseits. Das friesische Recht ist in vielen Beziehungen ein verschiedenes für Westfriesland, Ost- und Mittelfriesland. Unter den Ribuariern haben die Chamaven ein Sonder- recht. Nur auf einen Teil des thüringischen Stammes bezieht sich das Volksrecht der Angeln und Warnen. Innerhalb des langobardischen Rechtsgebietes nimmt hinsichtlich der Rechtsbildung das Fürstentum Benevent eine Sonderstellung ein. Und auch bei der romanischen Bevölkerung erhielt das römische Vulgarrecht in den einzelnen Teilen des Reiches teils aus sich selbst heraus, teils unter der Einwirkung

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/273>, abgerufen am 29.03.2024.