Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 38. Die Volksrechte.
unter Speerschlag oder Speerberührung abgegebenes Gesamturteil be-
kräftigen 4. So sagt König Gundobad von Burgund in der Einleitung
zu seiner Konstitutionensammlung, dass sie ex tractatu nostro et com-
muni omnium voluntate niedergeschrieben worden sei. Und wenn es
in einem Kapitular Karls des Kahlen von 864 gelegentlich heisst:
lex consensu populi fit et constitutione regis 5, so ist dies nur die
knapp gefasste Formulierung einer Rechtsanschauung, welche im Sinne
der Zeit der verbindlichen Kraft der Volksrechte zu Grunde lag.

Die Satzung wird als eine Vereinbarung der Volksgenossen auf-
gefasst, ein Gesichtspunkt, der darin zum Ausdruck gelangt, dass die
Lex nicht selten als Pactus bezeichnet wird. So heissen in einigen
Handschriften das salische und das ribuarische Volksrecht, so nennt
sich die älteste Satzung des Alamannenrechts. Auch das bairische
Volksrecht wird als Pactus zitiert 6. Zahlreiche Stellen der Lex Salica
beginnen mit den Worten: hoc convenit observare. Mit sic convenit
leitet sich der Pactus Alamannorum, mit convenit enim die Lex Ala-
mannorum ein. Ein Rechtssatz der letzteren motiviert sich durch die
Wendung, dass der Herzog und das gesamte Volk in öffentlicher Ver-
sammlung ihn gewillkürt habe 7.

Bei der Satzung und bei der Weisung des Volksrechts waren
regelmässig rechtskundige und erfahrene Männer thätig, welche die
Formulierung der Rechtssätze vorschlugen oder auf Anfrage hin das
geltende Gewohnheitsrecht kundgaben. Sie wurden als sapientes
oder als legislatores bezeichnet; ihre Thätigkeit wird legem dictare
genannt. Karl der Grosse nennt in einer Verordnung von 789 das
Volksrecht lex a sapientibus populo conposita 8.

Der Anteil, welchen das Königtum an der Satzung und an der
Aufzeichnung der Volksrechte nahm, ist im Laufe der fränkischen Zeit
mehr und mehr gestiegen. Von der Satzung und Aufzeichnung der
karolingischen Volksrechte kann man geradezu sagen, dass sie nicht
aus dem Bedürfnisse des Rechtslebens, sondern aus dem Willen des
Königtums hervorgegangen sei. Diesem steigenden Einflusse des
Königtums entspricht es, dass eine gelehrte Sage die Satzung der
fränkischen und der oberdeutschen Volksrechte auf eine sie gemeinsam

4 S. oben S 131.
5 LL I 490, c. 6.
6 S. die Belegstellen bei Waitz, VG II 1 S 87 Anm, dem darin beizustimmen
ist, dass pactus nicht bloss das geschriebene Recht bezeichnet. Pactus legis Ribu-
ariae lautet in der Wiener Handschrift A 5 die Überschrift des ribuar. Volksrechts.
7 Lantfr. 40, 3, Hlo. 41, 3.
8 Cap. I 58, c. 63. Ahd. Glossen haben für legislator eoskefel, Graff
VI 447. Siehe noch oben S 110 Anm 5, S 150 Anm 33.

§ 38. Die Volksrechte.
unter Speerschlag oder Speerberührung abgegebenes Gesamturteil be-
kräftigen 4. So sagt König Gundobad von Burgund in der Einleitung
zu seiner Konstitutionensammlung, daſs sie ex tractatu nostro et com-
muni omnium voluntate niedergeschrieben worden sei. Und wenn es
in einem Kapitular Karls des Kahlen von 864 gelegentlich heiſst:
lex consensu populi fit et constitutione regis 5, so ist dies nur die
knapp gefaſste Formulierung einer Rechtsanschauung, welche im Sinne
der Zeit der verbindlichen Kraft der Volksrechte zu Grunde lag.

Die Satzung wird als eine Vereinbarung der Volksgenossen auf-
gefaſst, ein Gesichtspunkt, der darin zum Ausdruck gelangt, daſs die
Lex nicht selten als Pactus bezeichnet wird. So heiſsen in einigen
Handschriften das salische und das ribuarische Volksrecht, so nennt
sich die älteste Satzung des Alamannenrechts. Auch das bairische
Volksrecht wird als Pactus zitiert 6. Zahlreiche Stellen der Lex Salica
beginnen mit den Worten: hoc convenit observare. Mit sic convenit
leitet sich der Pactus Alamannorum, mit convenit enim die Lex Ala-
mannorum ein. Ein Rechtssatz der letzteren motiviert sich durch die
Wendung, daſs der Herzog und das gesamte Volk in öffentlicher Ver-
sammlung ihn gewillkürt habe 7.

Bei der Satzung und bei der Weisung des Volksrechts waren
regelmäſsig rechtskundige und erfahrene Männer thätig, welche die
Formulierung der Rechtssätze vorschlugen oder auf Anfrage hin das
geltende Gewohnheitsrecht kundgaben. Sie wurden als sapientes
oder als legislatores bezeichnet; ihre Thätigkeit wird legem dictare
genannt. Karl der Groſse nennt in einer Verordnung von 789 das
Volksrecht lex a sapientibus populo conposita 8.

Der Anteil, welchen das Königtum an der Satzung und an der
Aufzeichnung der Volksrechte nahm, ist im Laufe der fränkischen Zeit
mehr und mehr gestiegen. Von der Satzung und Aufzeichnung der
karolingischen Volksrechte kann man geradezu sagen, daſs sie nicht
aus dem Bedürfnisse des Rechtslebens, sondern aus dem Willen des
Königtums hervorgegangen sei. Diesem steigenden Einflusse des
Königtums entspricht es, daſs eine gelehrte Sage die Satzung der
fränkischen und der oberdeutschen Volksrechte auf eine sie gemeinsam

4 S. oben S 131.
5 LL I 490, c. 6.
6 S. die Belegstellen bei Waitz, VG II 1 S 87 Anm, dem darin beizustimmen
ist, daſs pactus nicht bloſs das geschriebene Recht bezeichnet. Pactus legis Ribu-
ariae lautet in der Wiener Handschrift A 5 die Überschrift des ribuar. Volksrechts.
7 Lantfr. 40, 3, Hlo. 41, 3.
8 Cap. I 58, c. 63. Ahd. Glossen haben für legislator êoskefel, Graff
VI 447. Siehe noch oben S 110 Anm 5, S 150 Anm 33.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0305" n="287"/><fw place="top" type="header">§ 38. Die Volksrechte.</fw><lb/>
unter Speerschlag oder Speerberührung abgegebenes Gesamturteil be-<lb/>
kräftigen <note place="foot" n="4">S. oben S 131.</note>. So sagt König Gundobad von Burgund in der Einleitung<lb/>
zu seiner Konstitutionensammlung, da&#x017F;s sie ex tractatu nostro et com-<lb/>
muni omnium voluntate niedergeschrieben worden sei. Und wenn es<lb/>
in einem Kapitular Karls des Kahlen von 864 gelegentlich hei&#x017F;st:<lb/>
lex consensu populi fit et constitutione regis <note place="foot" n="5">LL I 490, c. 6.</note>, so ist dies nur die<lb/>
knapp gefa&#x017F;ste Formulierung einer Rechtsanschauung, welche im Sinne<lb/>
der Zeit der verbindlichen Kraft der Volksrechte zu Grunde lag.</p><lb/>
            <p>Die Satzung wird als eine Vereinbarung der Volksgenossen auf-<lb/>
gefa&#x017F;st, ein Gesichtspunkt, der darin zum Ausdruck gelangt, da&#x017F;s die<lb/>
Lex nicht selten als Pactus bezeichnet wird. So hei&#x017F;sen in einigen<lb/>
Handschriften das salische und das ribuarische Volksrecht, so nennt<lb/>
sich die älteste Satzung des Alamannenrechts. Auch das bairische<lb/>
Volksrecht wird als Pactus zitiert <note place="foot" n="6">S. die Belegstellen bei <hi rendition="#g">Waitz</hi>, VG II 1 S 87 Anm, dem darin beizustimmen<lb/>
ist, da&#x017F;s pactus nicht blo&#x017F;s das geschriebene Recht bezeichnet. Pactus legis Ribu-<lb/>
ariae lautet in der Wiener Handschrift A 5 die Überschrift des ribuar. Volksrechts.</note>. Zahlreiche Stellen der Lex Salica<lb/>
beginnen mit den Worten: hoc convenit observare. Mit sic convenit<lb/>
leitet sich der Pactus Alamannorum, mit convenit enim die Lex Ala-<lb/>
mannorum ein. Ein Rechtssatz der letzteren motiviert sich durch die<lb/>
Wendung, da&#x017F;s der Herzog und das gesamte Volk in öffentlicher Ver-<lb/>
sammlung ihn gewillkürt habe <note place="foot" n="7">Lantfr. 40, 3, Hlo. 41, 3.</note>.</p><lb/>
            <p>Bei der Satzung und bei der Weisung des Volksrechts waren<lb/>
regelmä&#x017F;sig rechtskundige und erfahrene Männer thätig, welche die<lb/>
Formulierung der Rechtssätze vorschlugen oder auf Anfrage hin das<lb/>
geltende Gewohnheitsrecht kundgaben. Sie wurden als sapientes<lb/>
oder als legislatores bezeichnet; ihre Thätigkeit wird legem dictare<lb/>
genannt. Karl der Gro&#x017F;se nennt in einer Verordnung von 789 das<lb/>
Volksrecht lex a sapientibus populo conposita <note place="foot" n="8">Cap. I 58, c. 63. Ahd. Glossen haben für legislator êoskefel, <hi rendition="#g">Graff</hi><lb/>
VI 447. Siehe noch oben S 110 Anm 5, S 150 Anm 33.</note>.</p><lb/>
            <p>Der Anteil, welchen das Königtum an der Satzung und an der<lb/>
Aufzeichnung der Volksrechte nahm, ist im Laufe der fränkischen Zeit<lb/>
mehr und mehr gestiegen. Von der Satzung und Aufzeichnung der<lb/>
karolingischen Volksrechte kann man geradezu sagen, da&#x017F;s sie nicht<lb/>
aus dem Bedürfnisse des Rechtslebens, sondern aus dem Willen des<lb/>
Königtums hervorgegangen sei. Diesem steigenden Einflusse des<lb/>
Königtums entspricht es, da&#x017F;s eine gelehrte Sage die Satzung der<lb/>
fränkischen und der oberdeutschen Volksrechte auf eine sie gemeinsam<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0305] § 38. Die Volksrechte. unter Speerschlag oder Speerberührung abgegebenes Gesamturteil be- kräftigen 4. So sagt König Gundobad von Burgund in der Einleitung zu seiner Konstitutionensammlung, daſs sie ex tractatu nostro et com- muni omnium voluntate niedergeschrieben worden sei. Und wenn es in einem Kapitular Karls des Kahlen von 864 gelegentlich heiſst: lex consensu populi fit et constitutione regis 5, so ist dies nur die knapp gefaſste Formulierung einer Rechtsanschauung, welche im Sinne der Zeit der verbindlichen Kraft der Volksrechte zu Grunde lag. Die Satzung wird als eine Vereinbarung der Volksgenossen auf- gefaſst, ein Gesichtspunkt, der darin zum Ausdruck gelangt, daſs die Lex nicht selten als Pactus bezeichnet wird. So heiſsen in einigen Handschriften das salische und das ribuarische Volksrecht, so nennt sich die älteste Satzung des Alamannenrechts. Auch das bairische Volksrecht wird als Pactus zitiert 6. Zahlreiche Stellen der Lex Salica beginnen mit den Worten: hoc convenit observare. Mit sic convenit leitet sich der Pactus Alamannorum, mit convenit enim die Lex Ala- mannorum ein. Ein Rechtssatz der letzteren motiviert sich durch die Wendung, daſs der Herzog und das gesamte Volk in öffentlicher Ver- sammlung ihn gewillkürt habe 7. Bei der Satzung und bei der Weisung des Volksrechts waren regelmäſsig rechtskundige und erfahrene Männer thätig, welche die Formulierung der Rechtssätze vorschlugen oder auf Anfrage hin das geltende Gewohnheitsrecht kundgaben. Sie wurden als sapientes oder als legislatores bezeichnet; ihre Thätigkeit wird legem dictare genannt. Karl der Groſse nennt in einer Verordnung von 789 das Volksrecht lex a sapientibus populo conposita 8. Der Anteil, welchen das Königtum an der Satzung und an der Aufzeichnung der Volksrechte nahm, ist im Laufe der fränkischen Zeit mehr und mehr gestiegen. Von der Satzung und Aufzeichnung der karolingischen Volksrechte kann man geradezu sagen, daſs sie nicht aus dem Bedürfnisse des Rechtslebens, sondern aus dem Willen des Königtums hervorgegangen sei. Diesem steigenden Einflusse des Königtums entspricht es, daſs eine gelehrte Sage die Satzung der fränkischen und der oberdeutschen Volksrechte auf eine sie gemeinsam 4 S. oben S 131. 5 LL I 490, c. 6. 6 S. die Belegstellen bei Waitz, VG II 1 S 87 Anm, dem darin beizustimmen ist, daſs pactus nicht bloſs das geschriebene Recht bezeichnet. Pactus legis Ribu- ariae lautet in der Wiener Handschrift A 5 die Überschrift des ribuar. Volksrechts. 7 Lantfr. 40, 3, Hlo. 41, 3. 8 Cap. I 58, c. 63. Ahd. Glossen haben für legislator êoskefel, Graff VI 447. Siehe noch oben S 110 Anm 5, S 150 Anm 33.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/305
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/305>, abgerufen am 01.05.2024.