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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 43. Die Leges Wisigothorum.
tief in das Erbrecht, in das Strafrecht und in das Prozessrecht ein
und machen in diesen Materien den Eindruck einer planmässigen und
systematischen Reform. Noch in anderer Beziehung trat die west-
gotische Gesetzgebung seit Chindasuinth in eine neue Phase ein.
Früher war sie eine gesonderte gewesen, für die gotische und für die
römische 32 Bevölkerung. Chindasuinths Gesetze kennen diesen Gegen-
satz nicht, sondern wenden sich gleichmässig an alle Unterthanen des
Reiches 33. Wir besitzen eine Konstitution des Königs Reckessuinth,
worin er befiehlt, dass Gesetze, die sein Vater seit dem zweiten Jahre
seiner Regierung erlassen habe, in cunctis personis ac gentibus des
ganzen Reiches gelten sollen 34. Daraus ist zu folgern, dass Chinda-
suinth seit seinem zweiten Regierungsjahre seine Gesetze als allgemeine
Reichsgesetze erlassen hatte, weil anderenfalls die Geltung derselben
für alle Unterthanen von Reckessuinth nicht ohne erhebliche Um-
arbeitung hätte vorgeschrieben werden können. Wahrscheinlich hat
Chindasuinth in den Gesetzen seines ersten Regierungsjahres noch
den Standpunkt der älteren westgotischen Gesetzgebung eingenommen
und dann im zweiten Regierungsjahre eine grössere Zahl von Reform-
gesetzen 35 erlassen, welche ohne Rücksicht auf den Gegensatz der
Stammesrechte für alle Unterthanen gelten sollten, indem er zugleich
die Gesetze des ersten Jahres ausser Kraft setzte, soweit sie nicht
auf Grund einer Revision in die Gesetzgebung des zweiten Jahres
herübergenommen worden waren. Eine neue Redaktion der west-
gotischen Konstitutionensammlung hat Chindasuinth nicht vorgenom-
men 36, er begnügte sich vielmehr, seine Novellen der Sammlung der

32 S. unten § 50.
33 Lex Wisig. III 1, 5 nimmt Rücksicht auf das römische Dotalrecht. Vgl.
etwa noch VI 5, 12.
34 Lex Wisig. II 1, 5: Quoniam novitatem legum vetustas vitiorum exigit et
innovare leges veternosas peccaminum antiquitas imperavit, ideo leges in hoc libro
conscriptas (Vat. constitutas) ab anno secundo domini et genitoris mei Chindasvindi
regis in cunctis personis ac gentibus nostrae amplitudinis imperio subiugatis omni
robore ualere decernimus ac iugi mansuras observantia consecramus: ita ut eiectis
illis quas non aequitas iudicantis sed libitus impresserat potestatis, evacuatisque
iudiciis et omnibus scripturis earum ordinatione confectis, hae solae valeant leges,
quas ab antiquitate ius tenemus aut idem genitor noster pro aequitate iudiciorum
vel pro austeritate culparum visus est non immerito condidisse, prolatis seu connexis
aliis legibus, quas nostri culminis fastigium iudiciali praesidens throno ... edidit
et formavit ac suae gloriae titulis adnotavit ...
35 Aus dem 2. Jahre Chindasuinths stammt Lex Wis. II 1, 7 quantis hactenus,
wie der Inhalt in Verbindung mit der zu rektifizierenden Inskription ergiebt.
36 Die Gesetze, welche man dafür geltend macht, Lex Wis. II 1, 9 (al. 8),
aliene gentis, II 1, 10, V 4, 22 tragen in den massgebendsten Handschriften, näm-

§ 43. Die Leges Wisigothorum.
tief in das Erbrecht, in das Strafrecht und in das Prozeſsrecht ein
und machen in diesen Materien den Eindruck einer planmäſsigen und
systematischen Reform. Noch in anderer Beziehung trat die west-
gotische Gesetzgebung seit Chindasuinth in eine neue Phase ein.
Früher war sie eine gesonderte gewesen, für die gotische und für die
römische 32 Bevölkerung. Chindasuinths Gesetze kennen diesen Gegen-
satz nicht, sondern wenden sich gleichmäſsig an alle Unterthanen des
Reiches 33. Wir besitzen eine Konstitution des Königs Reckessuinth,
worin er befiehlt, daſs Gesetze, die sein Vater seit dem zweiten Jahre
seiner Regierung erlassen habe, in cunctis personis ac gentibus des
ganzen Reiches gelten sollen 34. Daraus ist zu folgern, daſs Chinda-
suinth seit seinem zweiten Regierungsjahre seine Gesetze als allgemeine
Reichsgesetze erlassen hatte, weil anderenfalls die Geltung derselben
für alle Unterthanen von Reckessuinth nicht ohne erhebliche Um-
arbeitung hätte vorgeschrieben werden können. Wahrscheinlich hat
Chindasuinth in den Gesetzen seines ersten Regierungsjahres noch
den Standpunkt der älteren westgotischen Gesetzgebung eingenommen
und dann im zweiten Regierungsjahre eine gröſsere Zahl von Reform-
gesetzen 35 erlassen, welche ohne Rücksicht auf den Gegensatz der
Stammesrechte für alle Unterthanen gelten sollten, indem er zugleich
die Gesetze des ersten Jahres auſser Kraft setzte, soweit sie nicht
auf Grund einer Revision in die Gesetzgebung des zweiten Jahres
herübergenommen worden waren. Eine neue Redaktion der west-
gotischen Konstitutionensammlung hat Chindasuinth nicht vorgenom-
men 36, er begnügte sich vielmehr, seine Novellen der Sammlung der

32 S. unten § 50.
33 Lex Wisig. III 1, 5 nimmt Rücksicht auf das römische Dotalrecht. Vgl.
etwa noch VI 5, 12.
34 Lex Wisig. II 1, 5: Quoniam novitatem legum vetustas vitiorum exigit et
innovare leges veternosas peccaminum antiquitas imperavit, ideo leges in hoc libro
conscriptas (Vat. constitutas) ab anno secundo domini et genitoris mei Chindasvindi
regis in cunctis personis ac gentibus nostrae amplitudinis imperio subiugatis omni
robore ualere decernimus ac iugi mansuras observantia consecramus: ita ut eiectis
illis quas non aequitas iudicantis sed libitus impresserat potestatis, evacuatisque
iudiciis et omnibus scripturis earum ordinatione confectis, hae solae valeant leges,
quas ab antiquitate ius tenemus aut idem genitor noster pro aequitate iudiciorum
vel pro austeritate culparum visus est non immerito condidisse, prolatis seu connexis
aliis legibus, quas nostri culminis fastigium iudiciali praesidens throno … edidit
et formavit ac suae gloriae titulis adnotavit …
35 Aus dem 2. Jahre Chindasuinths stammt Lex Wis. II 1, 7 quantis hactenus,
wie der Inhalt in Verbindung mit der zu rektifizierenden Inskription ergiebt.
36 Die Gesetze, welche man dafür geltend macht, Lex Wis. II 1, 9 (al. 8),
aliene gentis, II 1, 10, V 4, 22 tragen in den maſsgebendsten Handschriften, näm-
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[328/0346] § 43. Die Leges Wisigothorum. tief in das Erbrecht, in das Strafrecht und in das Prozeſsrecht ein und machen in diesen Materien den Eindruck einer planmäſsigen und systematischen Reform. Noch in anderer Beziehung trat die west- gotische Gesetzgebung seit Chindasuinth in eine neue Phase ein. Früher war sie eine gesonderte gewesen, für die gotische und für die römische 32 Bevölkerung. Chindasuinths Gesetze kennen diesen Gegen- satz nicht, sondern wenden sich gleichmäſsig an alle Unterthanen des Reiches 33. Wir besitzen eine Konstitution des Königs Reckessuinth, worin er befiehlt, daſs Gesetze, die sein Vater seit dem zweiten Jahre seiner Regierung erlassen habe, in cunctis personis ac gentibus des ganzen Reiches gelten sollen 34. Daraus ist zu folgern, daſs Chinda- suinth seit seinem zweiten Regierungsjahre seine Gesetze als allgemeine Reichsgesetze erlassen hatte, weil anderenfalls die Geltung derselben für alle Unterthanen von Reckessuinth nicht ohne erhebliche Um- arbeitung hätte vorgeschrieben werden können. Wahrscheinlich hat Chindasuinth in den Gesetzen seines ersten Regierungsjahres noch den Standpunkt der älteren westgotischen Gesetzgebung eingenommen und dann im zweiten Regierungsjahre eine gröſsere Zahl von Reform- gesetzen 35 erlassen, welche ohne Rücksicht auf den Gegensatz der Stammesrechte für alle Unterthanen gelten sollten, indem er zugleich die Gesetze des ersten Jahres auſser Kraft setzte, soweit sie nicht auf Grund einer Revision in die Gesetzgebung des zweiten Jahres herübergenommen worden waren. Eine neue Redaktion der west- gotischen Konstitutionensammlung hat Chindasuinth nicht vorgenom- men 36, er begnügte sich vielmehr, seine Novellen der Sammlung der 32 S. unten § 50. 33 Lex Wisig. III 1, 5 nimmt Rücksicht auf das römische Dotalrecht. Vgl. etwa noch VI 5, 12. 34 Lex Wisig. II 1, 5: Quoniam novitatem legum vetustas vitiorum exigit et innovare leges veternosas peccaminum antiquitas imperavit, ideo leges in hoc libro conscriptas (Vat. constitutas) ab anno secundo domini et genitoris mei Chindasvindi regis in cunctis personis ac gentibus nostrae amplitudinis imperio subiugatis omni robore ualere decernimus ac iugi mansuras observantia consecramus: ita ut eiectis illis quas non aequitas iudicantis sed libitus impresserat potestatis, evacuatisque iudiciis et omnibus scripturis earum ordinatione confectis, hae solae valeant leges, quas ab antiquitate ius tenemus aut idem genitor noster pro aequitate iudiciorum vel pro austeritate culparum visus est non immerito condidisse, prolatis seu connexis aliis legibus, quas nostri culminis fastigium iudiciali praesidens throno … edidit et formavit ac suae gloriae titulis adnotavit … 35 Aus dem 2. Jahre Chindasuinths stammt Lex Wis. II 1, 7 quantis hactenus, wie der Inhalt in Verbindung mit der zu rektifizierenden Inskription ergiebt. 36 Die Gesetze, welche man dafür geltend macht, Lex Wis. II 1, 9 (al. 8), aliene gentis, II 1, 10, V 4, 22 tragen in den maſsgebendsten Handschriften, näm-

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/346>, abgerufen am 12.05.2024.