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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 45. Die Lex Frisionum.

Nach Fassung und Inhalt stellen sich einige Stücke als Privat-
arbeiten, andere als Satzungen, andere als Weistümer dar. Den
Charakter einer Privatarbeit hat Titel 2. Er giebt den Anstifter eines
Totschlags der Fehde preis, ohne eine Busse anzuordnen, wenn der
Totschläger selbst zur Genugthuung herangezogen werden kann. Das
Volksrecht bot für diesen Fall eine Lücke dar. Die fränkische Gesetz-
gebung würde bei der grundsätzlichen Stellung, die sie zur Fehde
einnahm, diese Lücke ausgefüllt haben, während der Verfasser der
Rechtsaufzeichnung sich begnügen musste, die Konsequenz des geltenden
Rechtes zu ziehen 9. Aus der Feder eines Privatmannes müssen auch
Titel 5 und Add. 11 geflossen sein, weil ihr heidnischer Inhalt den
christianisierenden Tendenzen der fränkischen Staatsgewalt wider-
spricht. Durch seine Fassung verrät sich Titel 14 als eine Aufzeich-
nung bestehenden Gewohnheitsrechtes 10.

Eine königliche Satzung liegt dem Titel 7 zu Grunde, wo es von
der Bestrafung des Mordbrenners heisst: haec constitutio ex edicto
regio processit. Auf königliche Satzung geht wohl auch der Inhalt
der Titel 17--21 zurück, von welchen 17, 18 und 19 der Lex Ala-
mannorum 11, 20 und 21 der Lex Ribuaria nachgebildet sind 12. Die
der Lex Alamannorum entsprechende Strafe des neunfachen Wergeld-
simplum, welche Titel 17 auf die Tötung in curte ducis und auf die
Tötung des herzoglichen Missus setzt, scheint auf eine in den Jahren
743--751 entstandene Satzung hinzuweisen. Denn da im karolingischen
Friesland ein Herzog nicht mehr nachzuweisen ist 13, so erübrigt nur
bei dem dux der Lex Frisionum an den dux Francorum zu denken
und an die Zeit, in welcher sich die Söhne Karl Martells, Pippin und

Umrechnung ursprünglicher Goldsolidi in Silbersolidi erklären. Seit dem Übergang
zum Silbersolidus hielt man die ursprüngliche Ziffer als Wergeldsimplum fest, welches
in Fällen kasueller Tötung (Add. 3, 68, vgl. 69, 70) als höhere Wundbusse (Lex Fr.
22, 57 u. 58, Add. 3, 58 a. E., vgl. oben S 225 Anm 7) oder als höheres Friedens-
geld (Lex Fr. 3; 9; 10, 1; 17, 4. 5; 21 a. E.) bezahlt wurde, während der Totschlag
und die ihm gleichgestellten Unthaten mit dem dreifachen Betrage gebüsst wurden.
9 S. oben S 162 Anm 33.
10 Haec lex inter Laubachi et Flehum custoditur ... Inter Flehum et Sinc-
falam talis est consuetudo ... De eadem re inter Laubachi et Wisaram fluvium
talis consuetudo est. Vgl. De Geer a. O. S 144.
11 In Tit. 17: "hic bannus est", vgl. c. 1 mit Lex Al. 26, c. 2 mit Lex Al. 29,
c. 3 mit Lex Al. 30, c. 5 mit Lex Al. 37. Tit. 18 entspricht Lex Al. 38. Zu
Tit. 19 vgl. Lex Al. 40.
12 Vgl. Lex Rib. 15. 16.
13 Gegen Richthofen, der sich LL III 649 auf Regino beruft, um darzu-
thun, dass es unter Karl d. Gr. friesische Herzoge gab, s. Waitz, VG III 158, V 36.
§ 45. Die Lex Frisionum.

Nach Fassung und Inhalt stellen sich einige Stücke als Privat-
arbeiten, andere als Satzungen, andere als Weistümer dar. Den
Charakter einer Privatarbeit hat Titel 2. Er giebt den Anstifter eines
Totschlags der Fehde preis, ohne eine Buſse anzuordnen, wenn der
Totschläger selbst zur Genugthuung herangezogen werden kann. Das
Volksrecht bot für diesen Fall eine Lücke dar. Die fränkische Gesetz-
gebung würde bei der grundsätzlichen Stellung, die sie zur Fehde
einnahm, diese Lücke ausgefüllt haben, während der Verfasser der
Rechtsaufzeichnung sich begnügen muſste, die Konsequenz des geltenden
Rechtes zu ziehen 9. Aus der Feder eines Privatmannes müssen auch
Titel 5 und Add. 11 geflossen sein, weil ihr heidnischer Inhalt den
christianisierenden Tendenzen der fränkischen Staatsgewalt wider-
spricht. Durch seine Fassung verrät sich Titel 14 als eine Aufzeich-
nung bestehenden Gewohnheitsrechtes 10.

Eine königliche Satzung liegt dem Titel 7 zu Grunde, wo es von
der Bestrafung des Mordbrenners heiſst: haec constitutio ex edicto
regio processit. Auf königliche Satzung geht wohl auch der Inhalt
der Titel 17—21 zurück, von welchen 17, 18 und 19 der Lex Ala-
mannorum 11, 20 und 21 der Lex Ribuaria nachgebildet sind 12. Die
der Lex Alamannorum entsprechende Strafe des neunfachen Wergeld-
simplum, welche Titel 17 auf die Tötung in curte ducis und auf die
Tötung des herzoglichen Missus setzt, scheint auf eine in den Jahren
743—751 entstandene Satzung hinzuweisen. Denn da im karolingischen
Friesland ein Herzog nicht mehr nachzuweisen ist 13, so erübrigt nur
bei dem dux der Lex Frisionum an den dux Francorum zu denken
und an die Zeit, in welcher sich die Söhne Karl Martells, Pippin und

Umrechnung ursprünglicher Goldsolidi in Silbersolidi erklären. Seit dem Übergang
zum Silbersolidus hielt man die ursprüngliche Ziffer als Wergeldsimplum fest, welches
in Fällen kasueller Tötung (Add. 3, 68, vgl. 69, 70) als höhere Wundbuſse (Lex Fr.
22, 57 u. 58, Add. 3, 58 a. E., vgl. oben S 225 Anm 7) oder als höheres Friedens-
geld (Lex Fr. 3; 9; 10, 1; 17, 4. 5; 21 a. E.) bezahlt wurde, während der Totschlag
und die ihm gleichgestellten Unthaten mit dem dreifachen Betrage gebüſst wurden.
9 S. oben S 162 Anm 33.
10 Haec lex inter Laubachi et Flehum custoditur … Inter Flehum et Sinc-
falam talis est consuetudo … De eadem re inter Laubachi et Wisaram fluvium
talis consuetudo est. Vgl. De Geer a. O. S 144.
11 In Tit. 17: „hic bannus est“, vgl. c. 1 mit Lex Al. 26, c. 2 mit Lex Al. 29,
c. 3 mit Lex Al. 30, c. 5 mit Lex Al. 37. Tit. 18 entspricht Lex Al. 38. Zu
Tit. 19 vgl. Lex Al. 40.
12 Vgl. Lex Rib. 15. 16.
13 Gegen Richthofen, der sich LL III 649 auf Regino beruft, um darzu-
thun, daſs es unter Karl d. Gr. friesische Herzoge gab, s. Waitz, VG III 158, V 36.
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[343/0361] § 45. Die Lex Frisionum. Nach Fassung und Inhalt stellen sich einige Stücke als Privat- arbeiten, andere als Satzungen, andere als Weistümer dar. Den Charakter einer Privatarbeit hat Titel 2. Er giebt den Anstifter eines Totschlags der Fehde preis, ohne eine Buſse anzuordnen, wenn der Totschläger selbst zur Genugthuung herangezogen werden kann. Das Volksrecht bot für diesen Fall eine Lücke dar. Die fränkische Gesetz- gebung würde bei der grundsätzlichen Stellung, die sie zur Fehde einnahm, diese Lücke ausgefüllt haben, während der Verfasser der Rechtsaufzeichnung sich begnügen muſste, die Konsequenz des geltenden Rechtes zu ziehen 9. Aus der Feder eines Privatmannes müssen auch Titel 5 und Add. 11 geflossen sein, weil ihr heidnischer Inhalt den christianisierenden Tendenzen der fränkischen Staatsgewalt wider- spricht. Durch seine Fassung verrät sich Titel 14 als eine Aufzeich- nung bestehenden Gewohnheitsrechtes 10. Eine königliche Satzung liegt dem Titel 7 zu Grunde, wo es von der Bestrafung des Mordbrenners heiſst: haec constitutio ex edicto regio processit. Auf königliche Satzung geht wohl auch der Inhalt der Titel 17—21 zurück, von welchen 17, 18 und 19 der Lex Ala- mannorum 11, 20 und 21 der Lex Ribuaria nachgebildet sind 12. Die der Lex Alamannorum entsprechende Strafe des neunfachen Wergeld- simplum, welche Titel 17 auf die Tötung in curte ducis und auf die Tötung des herzoglichen Missus setzt, scheint auf eine in den Jahren 743—751 entstandene Satzung hinzuweisen. Denn da im karolingischen Friesland ein Herzog nicht mehr nachzuweisen ist 13, so erübrigt nur bei dem dux der Lex Frisionum an den dux Francorum zu denken und an die Zeit, in welcher sich die Söhne Karl Martells, Pippin und 8 9 S. oben S 162 Anm 33. 10 Haec lex inter Laubachi et Flehum custoditur … Inter Flehum et Sinc- falam talis est consuetudo … De eadem re inter Laubachi et Wisaram fluvium talis consuetudo est. Vgl. De Geer a. O. S 144. 11 In Tit. 17: „hic bannus est“, vgl. c. 1 mit Lex Al. 26, c. 2 mit Lex Al. 29, c. 3 mit Lex Al. 30, c. 5 mit Lex Al. 37. Tit. 18 entspricht Lex Al. 38. Zu Tit. 19 vgl. Lex Al. 40. 12 Vgl. Lex Rib. 15. 16. 13 Gegen Richthofen, der sich LL III 649 auf Regino beruft, um darzu- thun, daſs es unter Karl d. Gr. friesische Herzoge gab, s. Waitz, VG III 158, V 36. 8 Umrechnung ursprünglicher Goldsolidi in Silbersolidi erklären. Seit dem Übergang zum Silbersolidus hielt man die ursprüngliche Ziffer als Wergeldsimplum fest, welches in Fällen kasueller Tötung (Add. 3, 68, vgl. 69, 70) als höhere Wundbuſse (Lex Fr. 22, 57 u. 58, Add. 3, 58 a. E., vgl. oben S 225 Anm 7) oder als höheres Friedens- geld (Lex Fr. 3; 9; 10, 1; 17, 4. 5; 21 a. E.) bezahlt wurde, während der Totschlag und die ihm gleichgestellten Unthaten mit dem dreifachen Betrage gebüſst wurden.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/361>, abgerufen am 29.04.2024.