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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 9. Die Reichsgründungen
dass sich nichtsdestoweniger mit dem Entstehen der ostgermanischen
Staaten eine Veränderung von weltgeschichtlicher Tragweite vollzogen
hat. Der springende Punkt ist, dass in ihnen zuerst der römische
Occident neue Herren empfangen hat. Das haben die Römer lebhaft
gefühlt, die Germanen ihnen deutlich zum Bewusstsein gebracht. Und
wenn der germanische König von jenen dominus rerum genannt wird 8,
so haben sie damit eben den Widerspruch formuliert, der zwischen
dem wahren Sachverhalt und dem abgelebten Gedanken des römischen
Imperiums obwaltete. Übrigens bilden die Staaten der Goten und
Burgunder nur den Übergang zu einer gründlicheren Umformung der
abendländischen Welt, welche durchzuführen den Franken beschieden
war. In Italien, wo die verhängnisvolle Pietät der Ostgoten römisches
Wesen fast zärtlich konserviert hatte, wurde den Franken durch die
Langobarden tüchtig vorgearbeitet, ein schneidiges Volk aus härterem
Stoff wie die bildsamen und duldsamen Ostgoten.

Die Langobarden, deren Vorgeschichte 9 hier kurz nachzuholen
ist, sassen um den Beginn unserer Zeitrechnung in den Gegenden der
unteren Elbe, wo ihr Name an dem Bardengau 10 haften geblieben
ist. Von Marbod in Abhängigkeit gebracht, traten sie während seiner
Kämpfe mit Armin auf die Seite der Cherusker über. In der zweiten
Hälfte des vierten Jahrhunderts scheint das Volk seine Sitze an der
Niederelbe verlassen zu haben. Laut der langobardischen Stammsage
wanderte es nach dem Sturz der Rugierherrschaft 487 in Rugiland
ein. Bald darauf stehen die Langobarden in Abhängigkeit von den
Herulern, welchen sie Tribut zahlen müssen. Nachdem sie sich
von dem Joche der Heruler befreit und dieselben vertrieben hatten,
scheinen sie sich nach Nordwesten hin ausgebreitet zu haben, denn
nach der Stammsage 11 hatte damals ein langobardischer König Wacho,
der mit den Sueben kämpfte, seine Residenz in dem nachmaligen Lande
der Tschechen (Beowinidi), also in Mähren oder in Böhmen. Später
rückten sie in Pannonien ein, besiegten mit den Avaren verbündet die
Gepiden und zogen 568 nach Italien, welches sie zum grössten Teile
den Oströmern entrissen.

8 Bethmann-Hollweg IV 255. Gaupp, Ansiedlungen S 187.
9 Bluhme, Die gens Langobardorum und ihre Herkunft, 1868. Wiese,
Die älteste Geschichte der Langobarden, 1877. Platner, Forschungen XX 173.
Loserth, Die Herrschaft der Langobarden in Böhmen, Mähren und Rugiland,
Mitteil. d. Instituts f. österr. Geschichtsforschung II 353.
10 v. Hammerstein-Loxten, Der Bardengau, 1869.
11 Origo gentis Langobardorum et Chronicon Gothanum in Mon. Germ. LL.
IV 641 und besser in Mon. Germ. Scriptores rerum Langobardicarum, 1878, S 1 ff.

§ 9. Die Reichsgründungen
daſs sich nichtsdestoweniger mit dem Entstehen der ostgermanischen
Staaten eine Veränderung von weltgeschichtlicher Tragweite vollzogen
hat. Der springende Punkt ist, daſs in ihnen zuerst der römische
Occident neue Herren empfangen hat. Das haben die Römer lebhaft
gefühlt, die Germanen ihnen deutlich zum Bewuſstsein gebracht. Und
wenn der germanische König von jenen dominus rerum genannt wird 8,
so haben sie damit eben den Widerspruch formuliert, der zwischen
dem wahren Sachverhalt und dem abgelebten Gedanken des römischen
Imperiums obwaltete. Übrigens bilden die Staaten der Goten und
Burgunder nur den Übergang zu einer gründlicheren Umformung der
abendländischen Welt, welche durchzuführen den Franken beschieden
war. In Italien, wo die verhängnisvolle Pietät der Ostgoten römisches
Wesen fast zärtlich konserviert hatte, wurde den Franken durch die
Langobarden tüchtig vorgearbeitet, ein schneidiges Volk aus härterem
Stoff wie die bildsamen und duldsamen Ostgoten.

Die Langobarden, deren Vorgeschichte 9 hier kurz nachzuholen
ist, saſsen um den Beginn unserer Zeitrechnung in den Gegenden der
unteren Elbe, wo ihr Name an dem Bardengau 10 haften geblieben
ist. Von Marbod in Abhängigkeit gebracht, traten sie während seiner
Kämpfe mit Armin auf die Seite der Cherusker über. In der zweiten
Hälfte des vierten Jahrhunderts scheint das Volk seine Sitze an der
Niederelbe verlassen zu haben. Laut der langobardischen Stammsage
wanderte es nach dem Sturz der Rugierherrschaft 487 in Rugiland
ein. Bald darauf stehen die Langobarden in Abhängigkeit von den
Herulern, welchen sie Tribut zahlen müssen. Nachdem sie sich
von dem Joche der Heruler befreit und dieselben vertrieben hatten,
scheinen sie sich nach Nordwesten hin ausgebreitet zu haben, denn
nach der Stammsage 11 hatte damals ein langobardischer König Wacho,
der mit den Sueben kämpfte, seine Residenz in dem nachmaligen Lande
der Tschechen (Beowinidi), also in Mähren oder in Böhmen. Später
rückten sie in Pannonien ein, besiegten mit den Avaren verbündet die
Gepiden und zogen 568 nach Italien, welches sie zum gröſsten Teile
den Oströmern entrissen.

8 Bethmann-Hollweg IV 255. Gaupp, Ansiedlungen S 187.
9 Bluhme, Die gens Langobardorum und ihre Herkunft, 1868. Wiese,
Die älteste Geschichte der Langobarden, 1877. Platner, Forschungen XX 173.
Loserth, Die Herrschaft der Langobarden in Böhmen, Mähren und Rugiland,
Mitteil. d. Instituts f. österr. Geschichtsforschung II 353.
10 v. Hammerstein-Loxten, Der Bardengau, 1869.
11 Origo gentis Langobardorum et Chronicon Gothanum in Mon. Germ. LL.
IV 641 und besser in Mon. Germ. Scriptores rerum Langobardicarum, 1878, S 1 ff.
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[54/0072] § 9. Die Reichsgründungen daſs sich nichtsdestoweniger mit dem Entstehen der ostgermanischen Staaten eine Veränderung von weltgeschichtlicher Tragweite vollzogen hat. Der springende Punkt ist, daſs in ihnen zuerst der römische Occident neue Herren empfangen hat. Das haben die Römer lebhaft gefühlt, die Germanen ihnen deutlich zum Bewuſstsein gebracht. Und wenn der germanische König von jenen dominus rerum genannt wird 8, so haben sie damit eben den Widerspruch formuliert, der zwischen dem wahren Sachverhalt und dem abgelebten Gedanken des römischen Imperiums obwaltete. Übrigens bilden die Staaten der Goten und Burgunder nur den Übergang zu einer gründlicheren Umformung der abendländischen Welt, welche durchzuführen den Franken beschieden war. In Italien, wo die verhängnisvolle Pietät der Ostgoten römisches Wesen fast zärtlich konserviert hatte, wurde den Franken durch die Langobarden tüchtig vorgearbeitet, ein schneidiges Volk aus härterem Stoff wie die bildsamen und duldsamen Ostgoten. Die Langobarden, deren Vorgeschichte 9 hier kurz nachzuholen ist, saſsen um den Beginn unserer Zeitrechnung in den Gegenden der unteren Elbe, wo ihr Name an dem Bardengau 10 haften geblieben ist. Von Marbod in Abhängigkeit gebracht, traten sie während seiner Kämpfe mit Armin auf die Seite der Cherusker über. In der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts scheint das Volk seine Sitze an der Niederelbe verlassen zu haben. Laut der langobardischen Stammsage wanderte es nach dem Sturz der Rugierherrschaft 487 in Rugiland ein. Bald darauf stehen die Langobarden in Abhängigkeit von den Herulern, welchen sie Tribut zahlen müssen. Nachdem sie sich von dem Joche der Heruler befreit und dieselben vertrieben hatten, scheinen sie sich nach Nordwesten hin ausgebreitet zu haben, denn nach der Stammsage 11 hatte damals ein langobardischer König Wacho, der mit den Sueben kämpfte, seine Residenz in dem nachmaligen Lande der Tschechen (Beowinidi), also in Mähren oder in Böhmen. Später rückten sie in Pannonien ein, besiegten mit den Avaren verbündet die Gepiden und zogen 568 nach Italien, welches sie zum gröſsten Teile den Oströmern entrissen. 8 Bethmann-Hollweg IV 255. Gaupp, Ansiedlungen S 187. 9 Bluhme, Die gens Langobardorum und ihre Herkunft, 1868. Wiese, Die älteste Geschichte der Langobarden, 1877. Platner, Forschungen XX 173. Loserth, Die Herrschaft der Langobarden in Böhmen, Mähren und Rugiland, Mitteil. d. Instituts f. österr. Geschichtsforschung II 353. 10 v. Hammerstein-Loxten, Der Bardengau, 1869. 11 Origo gentis Langobardorum et Chronicon Gothanum in Mon. Germ. LL. IV 641 und besser in Mon. Germ. Scriptores rerum Langobardicarum, 1878, S 1 ff.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/72>, abgerufen am 29.04.2024.