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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 88. Dingpflicht und Gerichtswesen.
geren Übergangsstadium, in welchem das Urteilen nach römischer
Weise ausschliesslich oder doch noch hauptsächlich dem Richter zu-
fiel, der sich dabei des Rates von weltlichen und geistlichen Bei-
sitzern bediente 31.

Wo die fränkische Gerichtsverfassung zur Herrschaft gelangte,
ist die Findung des Urteils nicht Sache des Richters, sondern der
Rachineburgen, bezw. der Schöffen. Die Urteilfinder werden nach
den fränkischen Volksrechten aufgefordert zu sagen, was Rechtens ist,
und verfallen in eine Busse, wenn sie den Urteilsvorschlag verweigern
oder wenn sich infolge einer Urteilschelte ergiebt, dass sie ein un-
gerechtes Urteil gefunden 32. Der Richter ist auf das dem Urteil
entsprechende Rechtsgebot beschränkt, welches er aber verweigern
kann und bei seiner Verantwortlichkeit verweigern muss, wenn er das
Urteil für rechtswidrig hält 33. Soweit die Schöffenverfassung durch-
geführt war, gilt daher schon für die fränkische Zeit der Ausspruch
einer jüngeren niederländischen Rechtsquelle, die das Gericht definiert
als eine Stätte, wo Richter, Schöffentum und Parteien versammelt
sind und wo der Richter Gebote thut, die durch Schöffenurteile vor-
her gefestigt worden waren 34. In den Urkunden und Formeln der

31 W. Sickel, Entstehung des Schöffengerichts, Z2 f. RG VI 28 ff.
32 Näheres darüber unten in § 101.
33 Nur so erklären sich Stellen wie Cap. omnibus cognita fac. 801--814,
c. 4, I 144: ut comites et vicarii eorum legem sciant, ut ante eos iniuste nemi-
nem quis iudicare possit vel ipsam legem mutare. Deutlich illustriert den Einfluss
des Richters auf das Urteil die Erzählung des Adrevald von Fleury in den Mira-
cula S. Benedicti, MG SS XV 1, S. 490. Die Kirchen von S. Denis und von
Fleury streiten um Eigenleute. Die Missi überweisen die Sache dem Gerichte von
Orleans, eo quod Salicae legis iudices ecclesiasticas res sub Romana constitutas
lege discernere perfecte non possent. Hier wird zunächst auf Zweikampf der
Zeugen geurteilt: adiudicatum est, ut ab utraque parte testes exirent ... Sed cum
id iustum rectumque visum fuisset omnibus, quidam Vastinensis regionis legis
doctor .. iudicium protulit: non esse rectum, ut bello propter res ecclesiasticas
testes decernerent, immo magis inter se mancipia advocati (die Vertreter der strei-
tenden Kirchen) partirentur. Cuius sententiae Genesius vicecomes favens
rectius dixit esse mancipia dividi quam testes bello decernere; in eamque senten-
tiam concilium omne deflexit. Das Urteil auf Zeugenzweikampf war ein Urteils-
vorschlag. Einer der Urteiler verweigert die Folge und findet ein anderes Urteil.
Der Vicecomes (den ich mit Sohm a. O. S. 501, Anm. 81, als Richter und nicht
mit Schröder, Z2 f. RG II 44, als Urteiler auffasse) tritt ihm bei und veranlasst
die ganze Versammlung, sich für diesen Urteilsvorschlag zu erklären.
34 Matthijssen, Het Rechtsboek van den Briel ed. Fruin S. 123: van rechts-
weghen heet een vierschair wesen een stede, dair die rechter, scependom ende
die recht eysschen off antwoirden willen, vergadert sijn ende aldair die rechter
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 15

§ 88. Dingpflicht und Gerichtswesen.
geren Übergangsstadium, in welchem das Urteilen nach römischer
Weise ausschlieſslich oder doch noch hauptsächlich dem Richter zu-
fiel, der sich dabei des Rates von weltlichen und geistlichen Bei-
sitzern bediente 31.

Wo die fränkische Gerichtsverfassung zur Herrschaft gelangte,
ist die Findung des Urteils nicht Sache des Richters, sondern der
Rachineburgen, bezw. der Schöffen. Die Urteilfinder werden nach
den fränkischen Volksrechten aufgefordert zu sagen, was Rechtens ist,
und verfallen in eine Buſse, wenn sie den Urteilsvorschlag verweigern
oder wenn sich infolge einer Urteilschelte ergiebt, daſs sie ein un-
gerechtes Urteil gefunden 32. Der Richter ist auf das dem Urteil
entsprechende Rechtsgebot beschränkt, welches er aber verweigern
kann und bei seiner Verantwortlichkeit verweigern muſs, wenn er das
Urteil für rechtswidrig hält 33. Soweit die Schöffenverfassung durch-
geführt war, gilt daher schon für die fränkische Zeit der Ausspruch
einer jüngeren niederländischen Rechtsquelle, die das Gericht definiert
als eine Stätte, wo Richter, Schöffentum und Parteien versammelt
sind und wo der Richter Gebote thut, die durch Schöffenurteile vor-
her gefestigt worden waren 34. In den Urkunden und Formeln der

31 W. Sickel, Entstehung des Schöffengerichts, Z2 f. RG VI 28 ff.
32 Näheres darüber unten in § 101.
33 Nur so erklären sich Stellen wie Cap. omnibus cognita fac. 801—814,
c. 4, I 144: ut comites et vicarii eorum legem sciant, ut ante eos iniuste nemi-
nem quis iudicare possit vel ipsam legem mutare. Deutlich illustriert den Einfluſs
des Richters auf das Urteil die Erzählung des Adrevald von Fleury in den Mira-
cula S. Benedicti, MG SS XV 1, S. 490. Die Kirchen von S. Denis und von
Fleury streiten um Eigenleute. Die Missi überweisen die Sache dem Gerichte von
Orléans, eo quod Salicae legis iudices ecclesiasticas res sub Romana constitutas
lege discernere perfecte non possent. Hier wird zunächst auf Zweikampf der
Zeugen geurteilt: adiudicatum est, ut ab utraque parte testes exirent … Sed cum
id iustum rectumque visum fuisset omnibus, quidam Vastinensis regionis legis
doctor .. iudicium protulit: non esse rectum, ut bello propter res ecclesiasticas
testes decernerent, immo magis inter se mancipia advocati (die Vertreter der strei-
tenden Kirchen) partirentur. Cuius sententiae Genesius vicecomes favens
rectius dixit esse mancipia dividi quam testes bello decernere; in eamque senten-
tiam concilium omne deflexit. Das Urteil auf Zeugenzweikampf war ein Urteils-
vorschlag. Einer der Urteiler verweigert die Folge und findet ein anderes Urteil.
Der Vicecomes (den ich mit Sohm a. O. S. 501, Anm. 81, als Richter und nicht
mit Schröder, Z2 f. RG II 44, als Urteiler auffasse) tritt ihm bei und veranlaſst
die ganze Versammlung, sich für diesen Urteilsvorschlag zu erklären.
34 Matthijssen, Het Rechtsboek van den Briel ed. Fruin S. 123: van rechts-
weghen heet een vierschair wesen een stede, dair die rechter, scependom ende
die recht eysschen off antwoirden willen, vergadert sijn ende aldair die rechter
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 15
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[225/0243] § 88. Dingpflicht und Gerichtswesen. geren Übergangsstadium, in welchem das Urteilen nach römischer Weise ausschlieſslich oder doch noch hauptsächlich dem Richter zu- fiel, der sich dabei des Rates von weltlichen und geistlichen Bei- sitzern bediente 31. Wo die fränkische Gerichtsverfassung zur Herrschaft gelangte, ist die Findung des Urteils nicht Sache des Richters, sondern der Rachineburgen, bezw. der Schöffen. Die Urteilfinder werden nach den fränkischen Volksrechten aufgefordert zu sagen, was Rechtens ist, und verfallen in eine Buſse, wenn sie den Urteilsvorschlag verweigern oder wenn sich infolge einer Urteilschelte ergiebt, daſs sie ein un- gerechtes Urteil gefunden 32. Der Richter ist auf das dem Urteil entsprechende Rechtsgebot beschränkt, welches er aber verweigern kann und bei seiner Verantwortlichkeit verweigern muſs, wenn er das Urteil für rechtswidrig hält 33. Soweit die Schöffenverfassung durch- geführt war, gilt daher schon für die fränkische Zeit der Ausspruch einer jüngeren niederländischen Rechtsquelle, die das Gericht definiert als eine Stätte, wo Richter, Schöffentum und Parteien versammelt sind und wo der Richter Gebote thut, die durch Schöffenurteile vor- her gefestigt worden waren 34. In den Urkunden und Formeln der 31 W. Sickel, Entstehung des Schöffengerichts, Z2 f. RG VI 28 ff. 32 Näheres darüber unten in § 101. 33 Nur so erklären sich Stellen wie Cap. omnibus cognita fac. 801—814, c. 4, I 144: ut comites et vicarii eorum legem sciant, ut ante eos iniuste nemi- nem quis iudicare possit vel ipsam legem mutare. Deutlich illustriert den Einfluſs des Richters auf das Urteil die Erzählung des Adrevald von Fleury in den Mira- cula S. Benedicti, MG SS XV 1, S. 490. Die Kirchen von S. Denis und von Fleury streiten um Eigenleute. Die Missi überweisen die Sache dem Gerichte von Orléans, eo quod Salicae legis iudices ecclesiasticas res sub Romana constitutas lege discernere perfecte non possent. Hier wird zunächst auf Zweikampf der Zeugen geurteilt: adiudicatum est, ut ab utraque parte testes exirent … Sed cum id iustum rectumque visum fuisset omnibus, quidam Vastinensis regionis legis doctor .. iudicium protulit: non esse rectum, ut bello propter res ecclesiasticas testes decernerent, immo magis inter se mancipia advocati (die Vertreter der strei- tenden Kirchen) partirentur. Cuius sententiae Genesius vicecomes favens rectius dixit esse mancipia dividi quam testes bello decernere; in eamque senten- tiam concilium omne deflexit. Das Urteil auf Zeugenzweikampf war ein Urteils- vorschlag. Einer der Urteiler verweigert die Folge und findet ein anderes Urteil. Der Vicecomes (den ich mit Sohm a. O. S. 501, Anm. 81, als Richter und nicht mit Schröder, Z2 f. RG II 44, als Urteiler auffasse) tritt ihm bei und veranlaſst die ganze Versammlung, sich für diesen Urteilsvorschlag zu erklären. 34 Matthijssen, Het Rechtsboek van den Briel ed. Fruin S. 123: van rechts- weghen heet een vierschair wesen een stede, dair die rechter, scependom ende die recht eysschen off antwoirden willen, vergadert sijn ende aldair die rechter Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 15

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/243>, abgerufen am 29.04.2024.