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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 89. Polizeidienst und öffentliche Fronden.
des eigenen Lebens anzugreifen, sondern setzte Verhältnisse voraus,
unter welchen der Erfolg einigermassen sicher war 2. Andernfalls ge-
nügte es, die Verfolgung des Missethäters durch Erhebung des Ge-
rüftes einzuleiten. Wer auch das versäumte, machte sich bussfällig 3.

Die Rechte, welche Haus und Hof des Missethäters der sogen.
Wüstung, d. h. der Zerstörung durch Bruch oder Brand, preisgeben,
betrachten es als öffentliche Pflicht, an der Wüstung teilzunehmen.
In flandrischen Rechten ist es nachmals strafbar, wenn jemand aus-
bleibt, falls das Haus des Verbrechers niedergerissen werden soll 4.

Wie im Lauf der Zeit die Vollstreckung der Friedlosigkeit und
ihrer Abspaltungen, hier früher und dort später, Sache des öffentlichen
Beamtentums wurde, soll in der Geschichte des Rechtsgangs und des
Strafrechtes dargestellt werden. Abgesehen von bestimmten Aus-
nahmefällen, schwächte sich der Zweck der allgemeinen Verfolgungs-
pflicht dahin ab, dass es zunächst nur galt, den Verbrecher dingfest
zu machen und dem Richter zu überliefern.

In merowingischer Zeit wurde bei Diebstahlsfällen die allgemeine
Verfolgungspflicht zu einer Haftung der Gemeindegenossen erweitert.
Die Centene musste für den Diebstahl Ersatz leisten, konnte sich aber
einerseits erholen, wenn sie den Dieb fing, andererseits die Haftung
abwälzen, wenn sie nachwies, dass die Spur des Diebstahls in eine
fremde Centene führe 5.

Aus den deutschen Stammesrechten übernahm das fränkische
Reichsrecht die allgemeine Pflicht der Gerüftsfolge und der Landfolge.

Gerüfte ist der landesübliche Ruf, der die Nachbarn auffordert,
zur Bewältigung oder Verfolgung des Verbrechers herbeizueilen 6. Ihm
nachzukommen, ist Pflicht eines jeden, der ihn vernimmt. Bussfällig
wird, wer das Gerüfte versitzt 7.


2 Nach Knut's Witherlagsrecht soll jeder Witherlagsmann den früheren Ge-
nossen, der als Neiding ausgestossen worden war, angreifen, si uno saltem comite
aut telo superior illi postmodum occurat. Unterlässt er es, so wird er selbst zum
Neiding. Kolderup-Rosenvinge, Samling af gamle danske Love V 21, V 4.
3 Lex Chamavorum 31. Nach normannischem Rechte und nach niederlän-
dischen Rechten verfiel der Obrigkeit Leib und Gut desjenigen, der es unterliess,
den Ächter mit Gerüfte zu verfolgen.
4 Siehe oben I 169. Warnkönig, Flandrische RG III 252.
5 Siehe oben S. 147.
6 Siehe unten § 116.
7 Eine Busse von 4 Solidi setzt Lex Chamavorum 37, den Königsbann (bei
Unfreien 60 Hiebe) Conventus Silvac. v. J. 853, c. 5, Pertz, LL I 424. Das Ge-
rüfte versitzen, hream forsittan, sagen die angelsächsischen Quellen. Knut II 29,
§ 1. Vgl. Wilhelm I 50. Anschaulich schildert die Pflicht der Gerüftsfolge eine
15*

§ 89. Polizeidienst und öffentliche Fronden.
des eigenen Lebens anzugreifen, sondern setzte Verhältnisse voraus,
unter welchen der Erfolg einigermaſsen sicher war 2. Andernfalls ge-
nügte es, die Verfolgung des Missethäters durch Erhebung des Ge-
rüftes einzuleiten. Wer auch das versäumte, machte sich buſsfällig 3.

Die Rechte, welche Haus und Hof des Missethäters der sogen.
Wüstung, d. h. der Zerstörung durch Bruch oder Brand, preisgeben,
betrachten es als öffentliche Pflicht, an der Wüstung teilzunehmen.
In flandrischen Rechten ist es nachmals strafbar, wenn jemand aus-
bleibt, falls das Haus des Verbrechers niedergerissen werden soll 4.

Wie im Lauf der Zeit die Vollstreckung der Friedlosigkeit und
ihrer Abspaltungen, hier früher und dort später, Sache des öffentlichen
Beamtentums wurde, soll in der Geschichte des Rechtsgangs und des
Strafrechtes dargestellt werden. Abgesehen von bestimmten Aus-
nahmefällen, schwächte sich der Zweck der allgemeinen Verfolgungs-
pflicht dahin ab, daſs es zunächst nur galt, den Verbrecher dingfest
zu machen und dem Richter zu überliefern.

In merowingischer Zeit wurde bei Diebstahlsfällen die allgemeine
Verfolgungspflicht zu einer Haftung der Gemeindegenossen erweitert.
Die Centene muſste für den Diebstahl Ersatz leisten, konnte sich aber
einerseits erholen, wenn sie den Dieb fing, andererseits die Haftung
abwälzen, wenn sie nachwies, daſs die Spur des Diebstahls in eine
fremde Centene führe 5.

Aus den deutschen Stammesrechten übernahm das fränkische
Reichsrecht die allgemeine Pflicht der Gerüftsfolge und der Landfolge.

Gerüfte ist der landesübliche Ruf, der die Nachbarn auffordert,
zur Bewältigung oder Verfolgung des Verbrechers herbeizueilen 6. Ihm
nachzukommen, ist Pflicht eines jeden, der ihn vernimmt. Buſsfällig
wird, wer das Gerüfte versitzt 7.


2 Nach Knut’s Witherlagsrecht soll jeder Witherlagsmann den früheren Ge-
nossen, der als Neiding ausgestoſsen worden war, angreifen, si uno saltem comite
aut telo superior illi postmodum occurat. Unterläſst er es, so wird er selbst zum
Neiding. Kolderup-Rosenvinge, Samling af gamle danske Love V 21, V 4.
3 Lex Chamavorum 31. Nach normannischem Rechte und nach niederlän-
dischen Rechten verfiel der Obrigkeit Leib und Gut desjenigen, der es unterlieſs,
den Ächter mit Gerüfte zu verfolgen.
4 Siehe oben I 169. Warnkönig, Flandrische RG III 252.
5 Siehe oben S. 147.
6 Siehe unten § 116.
7 Eine Buſse von 4 Solidi setzt Lex Chamavorum 37, den Königsbann (bei
Unfreien 60 Hiebe) Conventus Silvac. v. J. 853, c. 5, Pertz, LL I 424. Das Ge-
rüfte versitzen, hréam forsittan, sagen die angelsächsischen Quellen. Knut II 29,
§ 1. Vgl. Wilhelm I 50. Anschaulich schildert die Pflicht der Gerüftsfolge eine
15*
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[227/0245] § 89. Polizeidienst und öffentliche Fronden. des eigenen Lebens anzugreifen, sondern setzte Verhältnisse voraus, unter welchen der Erfolg einigermaſsen sicher war 2. Andernfalls ge- nügte es, die Verfolgung des Missethäters durch Erhebung des Ge- rüftes einzuleiten. Wer auch das versäumte, machte sich buſsfällig 3. Die Rechte, welche Haus und Hof des Missethäters der sogen. Wüstung, d. h. der Zerstörung durch Bruch oder Brand, preisgeben, betrachten es als öffentliche Pflicht, an der Wüstung teilzunehmen. In flandrischen Rechten ist es nachmals strafbar, wenn jemand aus- bleibt, falls das Haus des Verbrechers niedergerissen werden soll 4. Wie im Lauf der Zeit die Vollstreckung der Friedlosigkeit und ihrer Abspaltungen, hier früher und dort später, Sache des öffentlichen Beamtentums wurde, soll in der Geschichte des Rechtsgangs und des Strafrechtes dargestellt werden. Abgesehen von bestimmten Aus- nahmefällen, schwächte sich der Zweck der allgemeinen Verfolgungs- pflicht dahin ab, daſs es zunächst nur galt, den Verbrecher dingfest zu machen und dem Richter zu überliefern. In merowingischer Zeit wurde bei Diebstahlsfällen die allgemeine Verfolgungspflicht zu einer Haftung der Gemeindegenossen erweitert. Die Centene muſste für den Diebstahl Ersatz leisten, konnte sich aber einerseits erholen, wenn sie den Dieb fing, andererseits die Haftung abwälzen, wenn sie nachwies, daſs die Spur des Diebstahls in eine fremde Centene führe 5. Aus den deutschen Stammesrechten übernahm das fränkische Reichsrecht die allgemeine Pflicht der Gerüftsfolge und der Landfolge. Gerüfte ist der landesübliche Ruf, der die Nachbarn auffordert, zur Bewältigung oder Verfolgung des Verbrechers herbeizueilen 6. Ihm nachzukommen, ist Pflicht eines jeden, der ihn vernimmt. Buſsfällig wird, wer das Gerüfte versitzt 7. 2 Nach Knut’s Witherlagsrecht soll jeder Witherlagsmann den früheren Ge- nossen, der als Neiding ausgestoſsen worden war, angreifen, si uno saltem comite aut telo superior illi postmodum occurat. Unterläſst er es, so wird er selbst zum Neiding. Kolderup-Rosenvinge, Samling af gamle danske Love V 21, V 4. 3 Lex Chamavorum 31. Nach normannischem Rechte und nach niederlän- dischen Rechten verfiel der Obrigkeit Leib und Gut desjenigen, der es unterlieſs, den Ächter mit Gerüfte zu verfolgen. 4 Siehe oben I 169. Warnkönig, Flandrische RG III 252. 5 Siehe oben S. 147. 6 Siehe unten § 116. 7 Eine Buſse von 4 Solidi setzt Lex Chamavorum 37, den Königsbann (bei Unfreien 60 Hiebe) Conventus Silvac. v. J. 853, c. 5, Pertz, LL I 424. Das Ge- rüfte versitzen, hréam forsittan, sagen die angelsächsischen Quellen. Knut II 29, § 1. Vgl. Wilhelm I 50. Anschaulich schildert die Pflicht der Gerüftsfolge eine 15*

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/245>, abgerufen am 29.04.2024.