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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 97. Einleitung zu Teil II.
Vorsitze duldet, mit Todesstrafe bedroht7. Eine Novelle der Lex
Salica scheint heidnische Formen des Kesselfangs, ein Kapitular Lud-
wigs I. kirchlich anstössige Arten der Wasserprobe zu verbieten8.

2. Die Selbstthätigkeit der Parteien erlitt eine wesentliche Ein-
schränkung, während die richterliche Autorität erhöht und das Ge-
richtsverfahren auf Fälle und Stadien aussergerichtlichen Rechtsgangs
ausgedehnt wurde. Soweit man die Sühne im Wege der Selbst-
hilfe suchte, wurde diese in engere Grenzen gewiesen, wie die
Fehde zum Zweck der Rache, oder an richterliche Erlaubnis gebun-
den, wie die Selbstpfändung um gelobte Schuld. Das Verfahren um
handhafte Missethat gestaltete sich zu einem Rechtsverfahren, das
wenigstens zum Teil des Richters nicht mehr entbehren durfte. Das
Beweisverfahren, ursprünglich in Busssachen ein aussergerichtliches,
wurde in das gerichtliche Verfahren hineingezogen. Auch die Ein-
leitung des Rechtsstreites und das Verfahren im Ding erfuhren eine
Änderung, indem der unmittelbare Verkehr der Parteien und indem
gewisse Parteihandlungen durch richterliche Befehle ersetzt wurden.
Hand in Hand mit der Steigerung der richterlichen Gewalt ging die
Abschwächung des prozessualischen Formalismus. Den Zwang, welchen
nach älterem Rechte die Form ausgeübt hatte, handhabte nunmehr
der Richter mit Hilfe des Bannes. Seitdem der Fortgang des Rechts-
streites auf seinen Bann angewiesen war, erlangte der Richter das
Recht der Prozessleitung. Ganz allgemein finden wir die Befugnis
des Richters, in das Gerichtsverfahren nach Bedarf einzugreifen, durch
ein Kapitular Ludwigs I. anerkannt, welches bestimmt: ut comes
potestatem habeat, in placito suo facere, quae debet, nemine contra-
dicente9.

3. Eine Gruppe bedeutsamer Neuerungen bezieht sich auf das
Beweisverfahren. Die von Alters hergebrachten Beweismittel wurden
zum Teile reformiert, um ihnen eine grössere Garantie materieller
Wahrheit zu geben. Neue Beweismittel kamen in Übung; so der
Urkundenbeweis und, wenn auch vorübergehend, ein neues Ordal.
Andere, so das Gerichtszeugnis und der Inquisitionsbeweis, erlangten
wenigstens eine beschränkte Anwendbarkeit.

4. Während dem älteren Rechte eine gerichtliche Zwangsvoll-
streckung fremd war10, wird in fränkischer Zeit zunächst bei gelobter

7 Decr. Child. II. c. 6, Cap. I 15. Farfalius steht wohl für frafalius von
fravali, Frevel. Vgl. niederfränkisch verdeban für vredeban, fries. ferd für fretho.
Siehe noch Sohm, Prozess der Lex Salica S. 150.
8 Siehe unten § 106.
9 Cap. de iust. faciendis v. circa 820, c. 5, I 296.
10 Siehe oben I 183.

§ 97. Einleitung zu Teil II.
Vorsitze duldet, mit Todesstrafe bedroht7. Eine Novelle der Lex
Salica scheint heidnische Formen des Kesselfangs, ein Kapitular Lud-
wigs I. kirchlich anstöſsige Arten der Wasserprobe zu verbieten8.

2. Die Selbstthätigkeit der Parteien erlitt eine wesentliche Ein-
schränkung, während die richterliche Autorität erhöht und das Ge-
richtsverfahren auf Fälle und Stadien auſsergerichtlichen Rechtsgangs
ausgedehnt wurde. Soweit man die Sühne im Wege der Selbst-
hilfe suchte, wurde diese in engere Grenzen gewiesen, wie die
Fehde zum Zweck der Rache, oder an richterliche Erlaubnis gebun-
den, wie die Selbstpfändung um gelobte Schuld. Das Verfahren um
handhafte Missethat gestaltete sich zu einem Rechtsverfahren, das
wenigstens zum Teil des Richters nicht mehr entbehren durfte. Das
Beweisverfahren, ursprünglich in Buſssachen ein auſsergerichtliches,
wurde in das gerichtliche Verfahren hineingezogen. Auch die Ein-
leitung des Rechtsstreites und das Verfahren im Ding erfuhren eine
Änderung, indem der unmittelbare Verkehr der Parteien und indem
gewisse Parteihandlungen durch richterliche Befehle ersetzt wurden.
Hand in Hand mit der Steigerung der richterlichen Gewalt ging die
Abschwächung des prozessualischen Formalismus. Den Zwang, welchen
nach älterem Rechte die Form ausgeübt hatte, handhabte nunmehr
der Richter mit Hilfe des Bannes. Seitdem der Fortgang des Rechts-
streites auf seinen Bann angewiesen war, erlangte der Richter das
Recht der Prozeſsleitung. Ganz allgemein finden wir die Befugnis
des Richters, in das Gerichtsverfahren nach Bedarf einzugreifen, durch
ein Kapitular Ludwigs I. anerkannt, welches bestimmt: ut comes
potestatem habeat, in placito suo facere, quae debet, nemine contra-
dicente9.

3. Eine Gruppe bedeutsamer Neuerungen bezieht sich auf das
Beweisverfahren. Die von Alters hergebrachten Beweismittel wurden
zum Teile reformiert, um ihnen eine gröſsere Garantie materieller
Wahrheit zu geben. Neue Beweismittel kamen in Übung; so der
Urkundenbeweis und, wenn auch vorübergehend, ein neues Ordal.
Andere, so das Gerichtszeugnis und der Inquisitionsbeweis, erlangten
wenigstens eine beschränkte Anwendbarkeit.

4. Während dem älteren Rechte eine gerichtliche Zwangsvoll-
streckung fremd war10, wird in fränkischer Zeit zunächst bei gelobter

7 Decr. Child. II. c. 6, Cap. I 15. Farfalius steht wohl für frafalius von
fravali, Frevel. Vgl. niederfränkisch verdeban für vredeban, fries. ferd für fretho.
Siehe noch Sohm, Prozeſs der Lex Salica S. 150.
8 Siehe unten § 106.
9 Cap. de iust. faciendis v. circa 820, c. 5, I 296.
10 Siehe oben I 183.
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[331/0349] § 97. Einleitung zu Teil II. Vorsitze duldet, mit Todesstrafe bedroht 7. Eine Novelle der Lex Salica scheint heidnische Formen des Kesselfangs, ein Kapitular Lud- wigs I. kirchlich anstöſsige Arten der Wasserprobe zu verbieten 8. 2. Die Selbstthätigkeit der Parteien erlitt eine wesentliche Ein- schränkung, während die richterliche Autorität erhöht und das Ge- richtsverfahren auf Fälle und Stadien auſsergerichtlichen Rechtsgangs ausgedehnt wurde. Soweit man die Sühne im Wege der Selbst- hilfe suchte, wurde diese in engere Grenzen gewiesen, wie die Fehde zum Zweck der Rache, oder an richterliche Erlaubnis gebun- den, wie die Selbstpfändung um gelobte Schuld. Das Verfahren um handhafte Missethat gestaltete sich zu einem Rechtsverfahren, das wenigstens zum Teil des Richters nicht mehr entbehren durfte. Das Beweisverfahren, ursprünglich in Buſssachen ein auſsergerichtliches, wurde in das gerichtliche Verfahren hineingezogen. Auch die Ein- leitung des Rechtsstreites und das Verfahren im Ding erfuhren eine Änderung, indem der unmittelbare Verkehr der Parteien und indem gewisse Parteihandlungen durch richterliche Befehle ersetzt wurden. Hand in Hand mit der Steigerung der richterlichen Gewalt ging die Abschwächung des prozessualischen Formalismus. Den Zwang, welchen nach älterem Rechte die Form ausgeübt hatte, handhabte nunmehr der Richter mit Hilfe des Bannes. Seitdem der Fortgang des Rechts- streites auf seinen Bann angewiesen war, erlangte der Richter das Recht der Prozeſsleitung. Ganz allgemein finden wir die Befugnis des Richters, in das Gerichtsverfahren nach Bedarf einzugreifen, durch ein Kapitular Ludwigs I. anerkannt, welches bestimmt: ut comes potestatem habeat, in placito suo facere, quae debet, nemine contra- dicente 9. 3. Eine Gruppe bedeutsamer Neuerungen bezieht sich auf das Beweisverfahren. Die von Alters hergebrachten Beweismittel wurden zum Teile reformiert, um ihnen eine gröſsere Garantie materieller Wahrheit zu geben. Neue Beweismittel kamen in Übung; so der Urkundenbeweis und, wenn auch vorübergehend, ein neues Ordal. Andere, so das Gerichtszeugnis und der Inquisitionsbeweis, erlangten wenigstens eine beschränkte Anwendbarkeit. 4. Während dem älteren Rechte eine gerichtliche Zwangsvoll- streckung fremd war 10, wird in fränkischer Zeit zunächst bei gelobter 7 Decr. Child. II. c. 6, Cap. I 15. Farfalius steht wohl für frafalius von fravali, Frevel. Vgl. niederfränkisch verdeban für vredeban, fries. ferd für fretho. Siehe noch Sohm, Prozeſs der Lex Salica S. 150. 8 Siehe unten § 106. 9 Cap. de iust. faciendis v. circa 820, c. 5, I 296. 10 Siehe oben I 183.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/349>, abgerufen am 27.04.2024.