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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 107. Die Urkunde.
bairische Recht dürfte nur von den Urkundszeugen verlangt haben,
dass sie, und zwar gemäss den Grundsätzen über die testes per aures
tracti, die Wahrheit der Urkunde beschwören18.

Auf dem Standpunkte des salischen Rechtes stehen das angel-
sächsiche, das langobardische und churrätische Recht, indem sie bei
Anfechtung der Urkunde zunächst den Producenten zum Eide rufen.
Nach dem Rechte der Angelsachsen schwört sich der Producent der
Urkunde, wenn ihr der Gegner den Glauben versagt, zu seinem
Rechte. Er ist näher zum Eide als der Gegner19. Das ältere lango-
bardische Recht lässt den Producenten der Urkunde die Wahrheit ihres
Inhaltes mit seinem Eide bekräftigen20, ein Grundsatz, der sich in
Benevent auch während der karolingischen Zeit erhalten hat21 und
uns für Schuldurkunden in dem Vertrage Karls III. mit Venedig
v. J. 880 begegnet22. Gleich dem langobardischen Rechte legt die

pater eius ... cartam fecisset et illos ad testes advocasset. Hoc per sacramentum dicant:
quod nos veri testes sumus. Nach Bresslau, Urkundenbeweis S. 4, schwört der
Presbyter als Partei und Urkundenproducent. Allein die Thätigkeit des Presbyter
ist hier so deutlich als testificari bezeichnet, dass er nur als Zeuge aufgefasst wer-
den darf. Die Notwendigkeit seines Zeugnisses konnte nur darauf beruhen, dass
er die Urkunde geschrieben hatte. Über den Schreiber als Zeugen in rätisch-ala-
mannischen und bairischen Urkunden siehe meine RG der Urk. I 237, Anm. 1,
und S. 253. Als Partei ist in der Lex Alam. 2 der pastor ecclesiae gedacht (vgl.
Lex Alam. 6). Das kann auch ein Laie sein. Schöpflin I, Nr. 67 ff.
18 Über die Stellung des bairischen Urkundenschreibers als Mandatar des
Destinatärs siehe meine RG der Urkunde I 251.
19 Der Besitz der Urkunde hat nach angelsächsischem Rechte eine ähnliche
prozessualische Bedeutung, wie nach dem kontinentalen Rechte die Gewere.
H. Brunner, RG der Urkunde I 207.
20 Siehe Bethmann-Hollweg IV 383, der auf Troya Nr. 340. 641. 677.
703 verweist. Das Prinzip erhellt für das ältere Recht auch aus Ratchis 8; denn
wie sich aus dieser Stelle ergiebt, musste bis dahin der Inhaber der Verkaufs-
urkunde, welche die Zahlung des Kaufpreises bezeugte, die Zahlung mit seinem
Eide erhärten, wenn sie bestritten worden war. Vgl. RG d. U. I 24, Anm. 1.
21 Pactiones de Leburiis cum Neapolitanis factae, Arechis von circa 780,
c. 9: Wird die von einem Langobarden producierte Erwerbsurkunde von neapoli-
tanischer Seite angefochten: iuret a parte Langobardorum tres homines de sex
hominibus quales pars Neapolitanorum quaesierint, dicentes per sacramentum:
quia ista cartulae veraces sunt. Pactio Gregorii v. J. 933, c. 4: iurent a parte
vestra Langobardorum tres homines vestris de sex hominibus, quales nos vobis
querimus, ad sancta evangelia dicentes: quia istae cartulae, quae ostendimus,
veraces sunt et ipsas terras, quas istae cartulae continunt, possidemus eas. Arechis
c. 10. Greg. c. 6. 7. Der Eid bestärkt die Wahrheit der Urkunde, wie die Eides-
hilfe die Wahrheit des Parteieides.
22 Pactum Karoli III, c. 23, Cap. II 140: et hoc stetit de cautionibus sive
de quibuslibet commendationibus, ut ... ipsi, qui scriptum fiduciationis aut pignus

§ 107. Die Urkunde.
bairische Recht dürfte nur von den Urkundszeugen verlangt haben,
daſs sie, und zwar gemäſs den Grundsätzen über die testes per aures
tracti, die Wahrheit der Urkunde beschwören18.

Auf dem Standpunkte des salischen Rechtes stehen das angel-
sächsiche, das langobardische und churrätische Recht, indem sie bei
Anfechtung der Urkunde zunächst den Producenten zum Eide rufen.
Nach dem Rechte der Angelsachsen schwört sich der Producent der
Urkunde, wenn ihr der Gegner den Glauben versagt, zu seinem
Rechte. Er ist näher zum Eide als der Gegner19. Das ältere lango-
bardische Recht läſst den Producenten der Urkunde die Wahrheit ihres
Inhaltes mit seinem Eide bekräftigen20, ein Grundsatz, der sich in
Benevent auch während der karolingischen Zeit erhalten hat21 und
uns für Schuldurkunden in dem Vertrage Karls III. mit Venedig
v. J. 880 begegnet22. Gleich dem langobardischen Rechte legt die

pater eius … cartam fecisset et illos ad testes advocasset. Hoc per sacramentum dicant:
quod nos veri testes sumus. Nach Breſslau, Urkundenbeweis S. 4, schwört der
Presbyter als Partei und Urkundenproducent. Allein die Thätigkeit des Presbyter
ist hier so deutlich als testificari bezeichnet, daſs er nur als Zeuge aufgefaſst wer-
den darf. Die Notwendigkeit seines Zeugnisses konnte nur darauf beruhen, daſs
er die Urkunde geschrieben hatte. Über den Schreiber als Zeugen in rätisch-ala-
mannischen und bairischen Urkunden siehe meine RG der Urk. I 237, Anm. 1,
und S. 253. Als Partei ist in der Lex Alam. 2 der pastor ecclesiae gedacht (vgl.
Lex Alam. 6). Das kann auch ein Laie sein. Schöpflin I, Nr. 67 ff.
18 Über die Stellung des bairischen Urkundenschreibers als Mandatar des
Destinatärs siehe meine RG der Urkunde I 251.
19 Der Besitz der Urkunde hat nach angelsächsischem Rechte eine ähnliche
prozessualische Bedeutung, wie nach dem kontinentalen Rechte die Gewere.
H. Brunner, RG der Urkunde I 207.
20 Siehe Bethmann-Hollweg IV 383, der auf Troya Nr. 340. 641. 677.
703 verweist. Das Prinzip erhellt für das ältere Recht auch aus Ratchis 8; denn
wie sich aus dieser Stelle ergiebt, muſste bis dahin der Inhaber der Verkaufs-
urkunde, welche die Zahlung des Kaufpreises bezeugte, die Zahlung mit seinem
Eide erhärten, wenn sie bestritten worden war. Vgl. RG d. U. I 24, Anm. 1.
21 Pactiones de Leburiis cum Neapolitanis factae, Arechis von circa 780,
c. 9: Wird die von einem Langobarden producierte Erwerbsurkunde von neapoli-
tanischer Seite angefochten: iuret a parte Langobardorum tres homines de sex
hominibus quales pars Neapolitanorum quaesierint, dicentes per sacramentum:
quia ista cartulae veraces sunt. Pactio Gregorii v. J. 933, c. 4: iurent a parte
vestra Langobardorum tres homines vestris de sex hominibus, quales nos vobis
querimus, ad sancta evangelia dicentes: quia istae cartulae, quae ostendimus,
veraces sunt et ipsas terras, quas istae cartulae continunt, possidemus eas. Arechis
c. 10. Greg. c. 6. 7. Der Eid bestärkt die Wahrheit der Urkunde, wie die Eides-
hilfe die Wahrheit des Parteieides.
22 Pactum Karoli III, c. 23, Cap. II 140: et hoc stetit de cautionibus sive
de quibuslibet commendationibus, ut … ipsi, qui scriptum fiduciationis aut pignus
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[424/0442] § 107. Die Urkunde. bairische Recht dürfte nur von den Urkundszeugen verlangt haben, daſs sie, und zwar gemäſs den Grundsätzen über die testes per aures tracti, die Wahrheit der Urkunde beschwören 18. Auf dem Standpunkte des salischen Rechtes stehen das angel- sächsiche, das langobardische und churrätische Recht, indem sie bei Anfechtung der Urkunde zunächst den Producenten zum Eide rufen. Nach dem Rechte der Angelsachsen schwört sich der Producent der Urkunde, wenn ihr der Gegner den Glauben versagt, zu seinem Rechte. Er ist näher zum Eide als der Gegner 19. Das ältere lango- bardische Recht läſst den Producenten der Urkunde die Wahrheit ihres Inhaltes mit seinem Eide bekräftigen 20, ein Grundsatz, der sich in Benevent auch während der karolingischen Zeit erhalten hat 21 und uns für Schuldurkunden in dem Vertrage Karls III. mit Venedig v. J. 880 begegnet 22. Gleich dem langobardischen Rechte legt die 17 18 Über die Stellung des bairischen Urkundenschreibers als Mandatar des Destinatärs siehe meine RG der Urkunde I 251. 19 Der Besitz der Urkunde hat nach angelsächsischem Rechte eine ähnliche prozessualische Bedeutung, wie nach dem kontinentalen Rechte die Gewere. H. Brunner, RG der Urkunde I 207. 20 Siehe Bethmann-Hollweg IV 383, der auf Troya Nr. 340. 641. 677. 703 verweist. Das Prinzip erhellt für das ältere Recht auch aus Ratchis 8; denn wie sich aus dieser Stelle ergiebt, muſste bis dahin der Inhaber der Verkaufs- urkunde, welche die Zahlung des Kaufpreises bezeugte, die Zahlung mit seinem Eide erhärten, wenn sie bestritten worden war. Vgl. RG d. U. I 24, Anm. 1. 21 Pactiones de Leburiis cum Neapolitanis factae, Arechis von circa 780, c. 9: Wird die von einem Langobarden producierte Erwerbsurkunde von neapoli- tanischer Seite angefochten: iuret a parte Langobardorum tres homines de sex hominibus quales pars Neapolitanorum quaesierint, dicentes per sacramentum: quia ista cartulae veraces sunt. Pactio Gregorii v. J. 933, c. 4: iurent a parte vestra Langobardorum tres homines vestris de sex hominibus, quales nos vobis querimus, ad sancta evangelia dicentes: quia istae cartulae, quae ostendimus, veraces sunt et ipsas terras, quas istae cartulae continunt, possidemus eas. Arechis c. 10. Greg. c. 6. 7. Der Eid bestärkt die Wahrheit der Urkunde, wie die Eides- hilfe die Wahrheit des Parteieides. 22 Pactum Karoli III, c. 23, Cap. II 140: et hoc stetit de cautionibus sive de quibuslibet commendationibus, ut … ipsi, qui scriptum fiduciationis aut pignus 17 pater eius … cartam fecisset et illos ad testes advocasset. Hoc per sacramentum dicant: quod nos veri testes sumus. Nach Breſslau, Urkundenbeweis S. 4, schwört der Presbyter als Partei und Urkundenproducent. Allein die Thätigkeit des Presbyter ist hier so deutlich als testificari bezeichnet, daſs er nur als Zeuge aufgefaſst wer- den darf. Die Notwendigkeit seines Zeugnisses konnte nur darauf beruhen, daſs er die Urkunde geschrieben hatte. Über den Schreiber als Zeugen in rätisch-ala- mannischen und bairischen Urkunden siehe meine RG der Urk. I 237, Anm. 1, und S. 253. Als Partei ist in der Lex Alam. 2 der pastor ecclesiae gedacht (vgl. Lex Alam. 6). Das kann auch ein Laie sein. Schöpflin I, Nr. 67 ff.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/442>, abgerufen am 30.04.2024.