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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 116. Das Verfahren um handhafte That.
Weg zur rechtsförmlichen Antwort und damit zum Beweise der Un-
schuld verschlossen 28. Der Gefangene mochte immerhin die Schuld
leugnen; aber zum Reinigungseide, zur excusatio, wurde er nicht
zugelassen 29. Vielmehr hatte der Urheber der Festnahme die
Pflicht und das Recht, den Leugnenden zu überführen und damit
die Rechtmässigkeit der Festnahme zu erhärten. Nach salischem
Rechte musste er mit zwölf 30, nach ribuarischem Rechte mit sechs 31
Eidhelfern die Schuld des Gefangenen beschwören. Als Eidhelfer
wurden höchst wahrscheinlich schon in fränkischer Zeit nur die auf das
Gerüfte hin herbeigeeilten Nachbarn, die später sogenannten Schrei-
mannen verwendet 32. Den Angelpunkt des ganzen Verfahrens bilden
die ligatio und der Beweis, dass sie eine rechtmässige war. Diese ist
aber bereits ein Teil der Vollstreckung jener Friedlosigkeit, die sich
der Verbrecher durch die Missethat zugezogen hat, während der ab-
schliessende Rest der öffentlichen Gewalt vorbehalten wird. Die Über-
führung des Gefangenen, der die Schuld leugnet, bezweckt die Recht-
fertigung der ligatio.

War die Festnahme keine öffentliche, ist sie ohne Erhebung des
Gerüftes und ohne Herbeiziehung der Nachbarn erfolgt, so liegt nicht
eigentlich handhafte That vor. Derjenige, den jemand nur mit Hilfe
seiner Diener gebunden, gelangt nach einer Bestimmung der Lex Ri-
buaria zum Reinigungseide, wenn er die That bestreitet. Auch mag
sein nächster Mage selbsiebent schwören, dass jener unrechtmässig ge-
bunden worden sei 33. Nach einem sächsischen Kapitulare darf der

28 Chloth. ed. c. 22, Cap. I 23: neque ingenuos neque servus, qui cum furto
non deprehinditur
, ad iudicibus aut ad quemcumque interfici non debent in-
auditus. Daraus ergiebt sich, dass in Chloth. praec. c. 3, Cap I 18: si quis in ali-
quo crimine fuerit accusatus, non condemnetur penitus inauditus, das Wort accu-
satus im Gegensatz zu deprehensus zu nehmen ist. Die Assisen der Cour des
Bourgeois von Jerusalem sagen in ch. 259 von dem, der auf der handhaften That
des Todschlags von zwei Mannen gefangen und überführt worden ist, ne li det
valer a dire, 'non place Des qu'il nel feyst', ains det estre tantost pendus. Mit
der Ausschliessung der rechtsförmlichen Antwort des Gebundenen dürfte auch der
Rechtssatz der Assisen von Jerusalem zusammenhängen, dass derjenige, der in
Ketten oder Banden vor Gericht gebracht wird, die Antwort verweigern muss, bis
er von Ketten oder Banden befreit ist. H. Brunner, Wort und Form im alt-
franz. Prozess S. 714.
29 Lex Rib. 41, 2. Ine 15, § 2.
30 Pactus pro tenore pacis c. 2.
31 Lex Rib. 41, 1; 79.
32 Siehe oben S. 399.
33 Lex Rib. 41, 3.

§ 116. Das Verfahren um handhafte That.
Weg zur rechtsförmlichen Antwort und damit zum Beweise der Un-
schuld verschlossen 28. Der Gefangene mochte immerhin die Schuld
leugnen; aber zum Reinigungseide, zur excusatio, wurde er nicht
zugelassen 29. Vielmehr hatte der Urheber der Festnahme die
Pflicht und das Recht, den Leugnenden zu überführen und damit
die Rechtmäſsigkeit der Festnahme zu erhärten. Nach salischem
Rechte muſste er mit zwölf 30, nach ribuarischem Rechte mit sechs 31
Eidhelfern die Schuld des Gefangenen beschwören. Als Eidhelfer
wurden höchst wahrscheinlich schon in fränkischer Zeit nur die auf das
Gerüfte hin herbeigeeilten Nachbarn, die später sogenannten Schrei-
mannen verwendet 32. Den Angelpunkt des ganzen Verfahrens bilden
die ligatio und der Beweis, daſs sie eine rechtmäſsige war. Diese ist
aber bereits ein Teil der Vollstreckung jener Friedlosigkeit, die sich
der Verbrecher durch die Missethat zugezogen hat, während der ab-
schlieſsende Rest der öffentlichen Gewalt vorbehalten wird. Die Über-
führung des Gefangenen, der die Schuld leugnet, bezweckt die Recht-
fertigung der ligatio.

War die Festnahme keine öffentliche, ist sie ohne Erhebung des
Gerüftes und ohne Herbeiziehung der Nachbarn erfolgt, so liegt nicht
eigentlich handhafte That vor. Derjenige, den jemand nur mit Hilfe
seiner Diener gebunden, gelangt nach einer Bestimmung der Lex Ri-
buaria zum Reinigungseide, wenn er die That bestreitet. Auch mag
sein nächster Mage selbsiebent schwören, daſs jener unrechtmäſsig ge-
bunden worden sei 33. Nach einem sächsischen Kapitulare darf der

28 Chloth. ed. c. 22, Cap. I 23: neque ingenuos neque servus, qui cum furto
non deprehinditur
, ad iudicibus aut ad quemcumque interfici non debent in-
auditus. Daraus ergiebt sich, daſs in Chloth. praec. c. 3, Cap I 18: si quis in ali-
quo crimine fuerit accusatus, non condemnetur penitus inauditus, das Wort accu-
satus im Gegensatz zu deprehensus zu nehmen ist. Die Assisen der Cour des
Bourgeois von Jerusalem sagen in ch. 259 von dem, der auf der handhaften That
des Todschlags von zwei Mannen gefangen und überführt worden ist, ne li det
valer à dire, ‘non place Dès qu’il nel feyst’, ains det estre tantost pendus. Mit
der Ausschlieſsung der rechtsförmlichen Antwort des Gebundenen dürfte auch der
Rechtssatz der Assisen von Jerusalem zusammenhängen, daſs derjenige, der in
Ketten oder Banden vor Gericht gebracht wird, die Antwort verweigern muſs, bis
er von Ketten oder Banden befreit ist. H. Brunner, Wort und Form im alt-
franz. Prozeſs S. 714.
29 Lex Rib. 41, 2. Ine 15, § 2.
30 Pactus pro tenore pacis c. 2.
31 Lex Rib. 41, 1; 79.
32 Siehe oben S. 399.
33 Lex Rib. 41, 3.
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[486/0504] § 116. Das Verfahren um handhafte That. Weg zur rechtsförmlichen Antwort und damit zum Beweise der Un- schuld verschlossen 28. Der Gefangene mochte immerhin die Schuld leugnen; aber zum Reinigungseide, zur excusatio, wurde er nicht zugelassen 29. Vielmehr hatte der Urheber der Festnahme die Pflicht und das Recht, den Leugnenden zu überführen und damit die Rechtmäſsigkeit der Festnahme zu erhärten. Nach salischem Rechte muſste er mit zwölf 30, nach ribuarischem Rechte mit sechs 31 Eidhelfern die Schuld des Gefangenen beschwören. Als Eidhelfer wurden höchst wahrscheinlich schon in fränkischer Zeit nur die auf das Gerüfte hin herbeigeeilten Nachbarn, die später sogenannten Schrei- mannen verwendet 32. Den Angelpunkt des ganzen Verfahrens bilden die ligatio und der Beweis, daſs sie eine rechtmäſsige war. Diese ist aber bereits ein Teil der Vollstreckung jener Friedlosigkeit, die sich der Verbrecher durch die Missethat zugezogen hat, während der ab- schlieſsende Rest der öffentlichen Gewalt vorbehalten wird. Die Über- führung des Gefangenen, der die Schuld leugnet, bezweckt die Recht- fertigung der ligatio. War die Festnahme keine öffentliche, ist sie ohne Erhebung des Gerüftes und ohne Herbeiziehung der Nachbarn erfolgt, so liegt nicht eigentlich handhafte That vor. Derjenige, den jemand nur mit Hilfe seiner Diener gebunden, gelangt nach einer Bestimmung der Lex Ri- buaria zum Reinigungseide, wenn er die That bestreitet. Auch mag sein nächster Mage selbsiebent schwören, daſs jener unrechtmäſsig ge- bunden worden sei 33. Nach einem sächsischen Kapitulare darf der 28 Chloth. ed. c. 22, Cap. I 23: neque ingenuos neque servus, qui cum furto non deprehinditur, ad iudicibus aut ad quemcumque interfici non debent in- auditus. Daraus ergiebt sich, daſs in Chloth. praec. c. 3, Cap I 18: si quis in ali- quo crimine fuerit accusatus, non condemnetur penitus inauditus, das Wort accu- satus im Gegensatz zu deprehensus zu nehmen ist. Die Assisen der Cour des Bourgeois von Jerusalem sagen in ch. 259 von dem, der auf der handhaften That des Todschlags von zwei Mannen gefangen und überführt worden ist, ne li det valer à dire, ‘non place Dès qu’il nel feyst’, ains det estre tantost pendus. Mit der Ausschlieſsung der rechtsförmlichen Antwort des Gebundenen dürfte auch der Rechtssatz der Assisen von Jerusalem zusammenhängen, daſs derjenige, der in Ketten oder Banden vor Gericht gebracht wird, die Antwort verweigern muſs, bis er von Ketten oder Banden befreit ist. H. Brunner, Wort und Form im alt- franz. Prozeſs S. 714. 29 Lex Rib. 41, 2. Ine 15, § 2. 30 Pactus pro tenore pacis c. 2. 31 Lex Rib. 41, 1; 79. 32 Siehe oben S. 399. 33 Lex Rib. 41, 3.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/504>, abgerufen am 29.04.2024.