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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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Militär. Nun endlich (März 1820) erließ Ludwig I. ein
Verfassungs-Edict mit sonderbarlichen Bestimmungen: der
Regierung allein stehe das Recht der Gesetzgebung, den
Kammern hingegen das Recht zu, die Steuern zu bewilligen,
nicht aber sie zu verweigern!! Wieder durchbrauste ein
Sturm des Hohns und der Entrüstung das Ländchen und
die Kammer, welche auf Grund jenes Edicts zusammentrat,
erzwang von der Regierung eine "Revision" desselben, so daß
am 17. Dezember 1820 eine von Fürst und Volk anerkannte
Verfassungs-Urkunde proclamirt werden konnte. Sie wurde
anfangs selbst von den Liberalen mit Jubel begrüßt, später
freilich, je länger sie galt, desto schärfer beurtheilt, am schärfsten
von Georg Büchner, der sie geradezu "ein elend jämmerlich
Ding" genannt hat (S. 278). Diese Bezeichnung mag im
Munde eines Republikaners, der eine Revolution herbeiführen
will, begreiflich ja berechtigt sein -- wir aber werden
über diese Constitution gerechter und darum günstiger urtheilen
müssen. Ohne übermäßig freisinnig zu sein -- so war z. B.
der Wahlcensus ein relativ sehr hoher -- gewährte sie
doch die wichtigsten Grundlagen constitutioneller Entwicklung:
die Controlle des Staatshaushalts, die Bewilligung oder
Verweigerung der Steuern stand der Volksvertretung zu,
die Minister waren ihr verantwortlich; die Giltigkeit der
bisherigen und die Erlassung neuer Gesetze war von ihrer
Zustimmung bedingt, auch war die Unabhängigkeit der Justiz,
die Freiheit der Person genügend gewährleistet. Nicht im
Wortlaute dieser Verfassung wird man also die Gründe zu
suchen haben, warum sie in der Folge so grimmig be-
fehdet ward, sondern einerseits darin, daß allmählig die
Wünsche des Volkes weit über das von ihr gewährte Maß

Militär. Nun endlich (März 1820) erließ Ludwig I. ein
Verfaſſungs-Edict mit ſonderbarlichen Beſtimmungen: der
Regierung allein ſtehe das Recht der Geſetzgebung, den
Kammern hingegen das Recht zu, die Steuern zu bewilligen,
nicht aber ſie zu verweigern!! Wieder durchbrauſte ein
Sturm des Hohns und der Entrüſtung das Ländchen und
die Kammer, welche auf Grund jenes Edicts zuſammentrat,
erzwang von der Regierung eine "Reviſion" desſelben, ſo daß
am 17. Dezember 1820 eine von Fürſt und Volk anerkannte
Verfaſſungs-Urkunde proclamirt werden konnte. Sie wurde
anfangs ſelbſt von den Liberalen mit Jubel begrüßt, ſpäter
freilich, je länger ſie galt, deſto ſchärfer beurtheilt, am ſchärfſten
von Georg Büchner, der ſie geradezu "ein elend jämmerlich
Ding" genannt hat (S. 278). Dieſe Bezeichnung mag im
Munde eines Republikaners, der eine Revolution herbeiführen
will, begreiflich ja berechtigt ſein — wir aber werden
über dieſe Conſtitution gerechter und darum günſtiger urtheilen
müſſen. Ohne übermäßig freiſinnig zu ſein — ſo war z. B.
der Wahlcenſus ein relativ ſehr hoher — gewährte ſie
doch die wichtigſten Grundlagen conſtitutioneller Entwicklung:
die Controlle des Staatshaushalts, die Bewilligung oder
Verweigerung der Steuern ſtand der Volksvertretung zu,
die Miniſter waren ihr verantwortlich; die Giltigkeit der
bisherigen und die Erlaſſung neuer Geſetze war von ihrer
Zuſtimmung bedingt, auch war die Unabhängigkeit der Juſtiz,
die Freiheit der Perſon genügend gewährleiſtet. Nicht im
Wortlaute dieſer Verfaſſung wird man alſo die Gründe zu
ſuchen haben, warum ſie in der Folge ſo grimmig be-
fehdet ward, ſondern einerſeits darin, daß allmählig die
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[LXXVI/0092] Militär. Nun endlich (März 1820) erließ Ludwig I. ein Verfaſſungs-Edict mit ſonderbarlichen Beſtimmungen: der Regierung allein ſtehe das Recht der Geſetzgebung, den Kammern hingegen das Recht zu, die Steuern zu bewilligen, nicht aber ſie zu verweigern!! Wieder durchbrauſte ein Sturm des Hohns und der Entrüſtung das Ländchen und die Kammer, welche auf Grund jenes Edicts zuſammentrat, erzwang von der Regierung eine "Reviſion" desſelben, ſo daß am 17. Dezember 1820 eine von Fürſt und Volk anerkannte Verfaſſungs-Urkunde proclamirt werden konnte. Sie wurde anfangs ſelbſt von den Liberalen mit Jubel begrüßt, ſpäter freilich, je länger ſie galt, deſto ſchärfer beurtheilt, am ſchärfſten von Georg Büchner, der ſie geradezu "ein elend jämmerlich Ding" genannt hat (S. 278). Dieſe Bezeichnung mag im Munde eines Republikaners, der eine Revolution herbeiführen will, begreiflich ja berechtigt ſein — wir aber werden über dieſe Conſtitution gerechter und darum günſtiger urtheilen müſſen. Ohne übermäßig freiſinnig zu ſein — ſo war z. B. der Wahlcenſus ein relativ ſehr hoher — gewährte ſie doch die wichtigſten Grundlagen conſtitutioneller Entwicklung: die Controlle des Staatshaushalts, die Bewilligung oder Verweigerung der Steuern ſtand der Volksvertretung zu, die Miniſter waren ihr verantwortlich; die Giltigkeit der bisherigen und die Erlaſſung neuer Geſetze war von ihrer Zuſtimmung bedingt, auch war die Unabhängigkeit der Juſtiz, die Freiheit der Perſon genügend gewährleiſtet. Nicht im Wortlaute dieſer Verfaſſung wird man alſo die Gründe zu ſuchen haben, warum ſie in der Folge ſo grimmig be- fehdet ward, ſondern einerſeits darin, daß allmählig die Wünſche des Volkes weit über das von ihr gewährte Maß

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXXVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/92>, abgerufen am 30.04.2024.